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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben
Autoren: Karl May
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lieben Tierchen ihre zarten Kleider veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure ‚Blaustriche‘ gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren ‚Blaustriche‘ entpuppten sich als ganz wertlose Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler fünfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß der Täuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem Schlag; sein Wert war gleich Null. Solche und ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, daß Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er besuchte alle Märkte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften, um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er ‚halb geschenkt‘ erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses unstete, unnütze Leben förderte nicht, sondern fraß das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen wäre, weiter untätig zu bleiben. Da faßte sie einen Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Fall viel, viel vernünftiger als damals gegen unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Mann noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: „Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er soll sofort einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden!“
    Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. Während ihrer Abwesenheit führte Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden. Der Arzt mußte durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.
    Diese schwere Zeit war, als Mutter wiederkam, noch nicht ganz vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolg. Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen gesundend, heim. Aber das alles hatte große, große Opfer gefordert, freilich nur für unsere
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