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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben
Autoren: Karl May
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armen Verhältnisse groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreis unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir zogen zur Miete.
    Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die ‚Hohensteiner Großmutter‘ genannt wurde, stammte die Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als ‚Ernsttaler Großmutter‘ bezeichnen lassen. Diese letztere war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das alles? Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leid aufgewachsen; darum sah sie alles mit hoffenden, sich nach Erlösung sehnenden Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die Tochter bitterarmer Leute, hatte die Mutter früh verloren und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tod viele Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarg nach dem Kirchhof hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave Bursche gab ihr recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb ihr treu.
    Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen, ein kleines Öllämpchen, angebrannt, und eines von beiden las vor. In den Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band, dessen Titel lautete:
    Der Hakawati
    d.i. der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und Figürlich seyn
    von
Christianus Kretzschmann
der aus Germania war.
Gedruckt von Wilhelmus Candidus
A.D.: M.D.C.V.
    Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für nötig hielt, gab sie Änderungen und Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.
    Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tod nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht, daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns
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