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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Autoren: Karl May
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mit den Leuten! Sie haben für sich selbst zu tun. Und wenn sie zehnmal wissen, daß ich unschuldig bin, so bin und bleibe ich doch ein gefallenes Mädchen. Nach meiner Schuld oder Unschuld wird keiner fragen.“
    „Du darfst dein Gottvertrauen nicht sinken lassen. Es wird ja vieles ganz anders, als man sich ursprünglich gedacht hat.“
    „Das ist wohl wahr! Aber ich habe keine Hoffnung mehr. Meinen Vater haben sie zwar wieder freigelassen. Aber was wird er machen? Seidelmanns haben ihn ganz sicher nicht wieder in Arbeit genommen.“
    Sie erwartete eine Antwort von Engelchen; da diese aber schwieg, fuhr sie fort:
    „Weißt du vielleicht, ob er wieder bei ihnen ist?“
    „Er ist nicht dort“, antwortete die Gefragte leise und langsam.
    Sie merkte, daß die Tochter noch nichts von dem Tod ihres Vaters wußte, und scheute sich, diese betrübende oder gar wohl erschütternde Nachricht mitzuteilen.
    „Nicht?“ fragte Gustel. „So hat er wohl gar keine Arbeit?“
    „Nein; er arbeitet nicht –“
    Sie hatte damit allerdings die Wahrheit gesprochen. Der Schreiber ruhte in einem und demselben Grab mit seinem Weib unter der Erde. Sein irdisches Wirken war abgeschlossen; er arbeitete nicht mehr. Seine Tochter aber nahm diese Worte anders und fragte:
    „O Gott! So ist er daheim bei der Mutter?“
    „Ja.“
    Auch das war keine Unwahrheit. Er war daheim, in der Heimat, welche uns alle erwartet. Er war bei der Mutter. Seine Tochter verstand das freilich nicht symbolisch. Sie seufzte tief auf und klagte:
    „Welch ein Elend! Du kennst unsere Armut, und darum kann ich dir sagen, daß wir die ganze vorige Woche von einem Topf voll Sauerkraut gelebt haben. Das ist das Allerbilligste, was es gibt. Ich habe gehungert, damit die Mutter nichts davon merken sollte, und wenn sie fragte, ob die kleinen Geschwister gegessen hätten und satt seien, habe ich mit ja geantwortet, obgleich die armen Kleinen nur eine trockene, harte Brotrinde gehabt hatten. Da stand der Vater noch in Arbeit. Jetzt nun sitzt auch er zu Hause und hat keine Arbeit! Wie soll es da stehen und gehen! Welch ein Elend wird es da geben! Sie werden hungern, mehr als zuvor. Und dazu die arme, kranke Mutter!“
    Sie weinte leise, aber herzbrechend vor sich hin. Und als Engelchen nichts dazu sagte, fuhr sie nach einer Weile schluchzend fort:
    „Und nun ich dazu im Gefängnis!“
    „Man wird dich entlassen“, tröstete Engelchen.
    „Entlassen? O nein! Seidelmann wird bei seiner Aussage bleiben, und ich werde wegen Diebstahls bestraft werden.“
    Da nahm Engelchen alle ihre Weisheit zusammen und sagte:
    „Nein, das wird nicht geschehen! Noch gibt es einen lieben Gott, und noch gibt es gute Advokaten!“
    „Ja, wenn man so am lieben Gott festhalten könnte!“
    „Das kannst du! Ich wollte, der alte Papa Hauser wäre da; der würde dir schon Mut machen. Der hat eine felsenfeste Zuversicht und ist in der Bibel und im Gesangbuch zu Hause. Weißt du, was er dir sagen würde?“
    „Was?“
    „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht. Führe ich gen Himmel, siehe, so bist du da; bette ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da; nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde doch deine Rechte mich führen und deine Hand mich halten! – Gott ist also im Himmel; er ist in der Hölle; er ist am äußersten Meer; er wird also auch hier in der dunklen Zelle bei dir sein!“
    Es war wirklich so etwas wie Nachbar Hausers Geist über Engelchen gekommen. Sie war selbst gefangen; aber sie fühlte, daß ihre Freundin noch unglücklicher sei, und hielt sich verpflichtet, sie zu trösten.
    „Ja; Gott kann helfen – wenn er will!“ seufzte Gustel vor sich hin.
    „Oh, er kann nicht nur, sondern er will auch! Weißt du, was Hauser dir noch sagen würde?“
    „Noch einen Bibelvers.“
    „Oder einen Liedervers. Etwa:
    Hoff, o bedrängte Seele,
Hoff, und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle,
Da dich der Kummer plagt,
Mit großen Gnaden rücken.
Erwarte nur die Zeit,
So wirst du schon erblicken
Die Sonn' der schönsten Freud!“
    Die Sprecherin hörte, daß Gustel noch immer weinte; aber dieses weinen war ruhiger geworden. Dann erklang es von drüben herüber:
    „Und doch kommt Gott nicht mehr vom Himmel auf die Erde herab, wie es nach der Bibel geschehen sein soll!“
    „Aber er machte seine Boten zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen!“
    „Das heißt: er schickt irdische
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