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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Autoren: Karl May
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einem Zwang ist keine Rede gewesen.“
    „Wirklich?“
    „Ja.“
    „Bitte, treten Sie doch näher, Fräulein!“
    Auf diesen Ruf trat Hilda herbei. Der Maler erschrak und sagte ohne Überlegung:
    „Ich denke, Sie sind fort!“
    „Wie Sie sehen, befindet sie sich noch hier.“
    „Und sie ist es, die von Zwang gesprochen hat?“
    „Ja.“
    „Da hat sie gelogen!“
    Ellen nahm Hilda bei der Hand und fragte sie:
    „Haben Sie die Wahrheit gesagt, da Sie mir vorhin so angstvoll sagten, daß man Sie zwingen wolle, Modell zu sitzen?“
    „Ja“, erklärte die Gefragte.
    „Aber es ist ja Lüge! Habe etwa ich Sie gezwungen?“
    „Mittelbar“, erklärte Hilda mutig. „Diese Dame wollte sich an mir vergreifen. Sie hat mich gescholten und beleidigt. Sie wollte mich überreden, und als das nichts fruchtete, hatte sie die Absicht, handgreiflich zu werden.“
    „Was kann denn ich dafür?“
    „Sie haben es stillschweigend gut geheißen, anstatt mich zu beschützen.“
    „Siehe da! Dieses kleine Mädchen wagt es, mich zu beschuldigen.“
    Die Leda hatte bisher kein Wort gesprochen, sondern nur ihre Rivalin scharf betrachtet. Jetzt zuckte sie geringschätzig die Achsel und sagte:
    „Lassen Sie doch, Herr Ballettmeister! Eine solche Person, eine obskure Schneiderin, steht doch tief unter Ihrem und meinem Niveau, daß wir mit ihr gar nicht zu verkehren haben.“
    Das ergrimmte Hilda so, daß sie rasch antwortete:
    „Aber vorhin haben Sie mit mir verkehrt, als Sie in schamloser Entblößung zu mir sprachen, um mich zu vermögen, es Ihnen gleich zu tun!“
    „Werfen Sie doch diese Vettel hinaus“, rief die Leda im höchsten Zorn.
    „Halt! Nicht so schnell!“ sagte Ellen. „Die junge Dame steht unter meinem Schutz. Sie wird sich mit mir entfernen. Herr Ballettmeister, ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen meine Aufwartung zu machen, jetzt aber bedaure ich von ganzem Herzen, es getan zu haben!“
    Das hatte ihm noch niemand gesagt. Eine Balletteuse, welche Anstellung haben wollte, wagte es, ihm eine solche Bemerkung zu machen. Das war stark, sehr stark.
    „Oho!“ stieß er hervor.
    „Gewiß!“ antwortete sie. „Es kann mir nicht angenehm sein, Zeugin von Szenen zu sein, wie sie sich hier abgespielt haben. Gestatten Sie mir also, mich zurückzuziehen.“
    „Bitte, nur noch einen Augenblick!“ sagte er. „Nehmen Sie nur eine einzige Minute Platz!“
    „Danke!“ sagte sie ablehnend.
    Seine Frau machte ein höchst indigniertes Gesicht, und die Leda zuckte hohnvoll die Achsel. Dies bestärkte ihn in seinem Vorhaben, eine kräftige Entgegnung vom Stapel zu lassen.
    „Nicht wahr, Sie suchen Engagement an unserer Bühne?“ fragte er.
    „Suchen? Dies dürfte wohl nicht ganz der richtige Ausdruck sein, mein Herr.“
    „Nicht? Ah, Sie denken, man solle es Ihnen entgegengetragen bringen?“
    Es lag ein solcher Hohn in seinem Ausdruck, daß sie, Hilda bei der Hand erfassend, zu dieser sagte:
    „Kommen Sie, liebes Kind! Es ist hier, wie es scheint, nicht unsere Sphäre.“
    „Oho!“ rief der kleine Maler. „Eine Tänzerin, wie Sie ja sind, braucht nicht von Sphäre zu sprechen. Will man engagiert sein, so darf man nicht solche Voreiligkeiten begehen, wie ich sie von Ihnen höre. Verstanden!“
    Sie dreht sich an der Tür noch einmal um und antwortete:
    „Ob ich voreilig bin, mag der Richter entscheiden, welchem ich nun, da Sie in dieser Weise sprechen, von der Art und Weise, in welcher dieses gute Mädchen behandelt worden ist, Mitteilung machen werde!“
    Sie ging. Die drei, welche zurückblieben, blickten einander einige Momente sprachlos an; dann sagte der Maler:
    „Das also war die Amerikanerin!“
    „Ja, das war sie!“ nickte die Leda.
    „Impertinentes Geschöpf!“
    „Ganz Yankee!“
    „Ist mir aber doch verteufelt unlieb!“
    „Unsinn! Wenn sie es überall so macht, ist sie am längsten meine Rivalin gewesen.“
    „Aber sie wird sprechen!“
    „Das glaube ich nicht.“
    „Ich aber glaube es. Sie hat sich beleidigt gefühlt, und Sie wissen ja selbst, eine beleidigte Dame pflegt unversöhnlich zu sein.“
    „Sie glauben wirklich, daß sie zum Richter geht?“
    „Ich traue es ihr zu, daß sie Anzeige macht. Sie hatte ein so entschiedenes Aussehen, ein so resolutes Auftreten. Und an der ganzen Geschichte sind nur Sie schuld.“
    „Schwatzen Sie nicht!“
    „Schwatzen? Mäßigen Sie sich, Mademoiselle! Hätten Sie diese Schneiderin mir allein überlassen! Was ging die Sache denn Sie
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