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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius
Autoren: Horst Eckert
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Schrank.
    Anna schreckte hoch, die Aufnahme fiel ihr aus der Hand.
    Der Kerl stand ihr leibhaftig gegenüber. Seine Frisur war in Unordnung geraten, Strähnen hingen in die Stirn. Essig ballte die Fäuste und schrie: »W AS ZUM T EUFEL TUN S IE IN MEINER W OHNUNG ?«

7.
    Mai 2005
    Auf dem Weg ins Bergische Land spürte Anna, wie schwer es war, sich die bevorstehende Begegnung mit ihrer Mutter vorzustellen. Sie war neun Jahre alt gewesen, als Johanna Winkler, geborene Strom, auszog und wieder ihren alten Job bei einer Kölner Plattenfirma antrat.
    Anna hatte sich dafür entschieden, in Holzbüttgen zu bleiben. Nein, korrigierte sie sich, eigentlich hatte ihre Mutter sie gar nicht gefragt.
    Anna dachte an Karins Brief: Daniels Bekannter hasst deinen Onkel wegen einer alten Geschichte, die deine Mutter zum Teil bestätigt .
    Sie zappte durch die Sender, die das Autoradio empfing, und blieb beim Deutschlandfunk hängen. Eine Wissenschaftssendung über eine Mondfinsternis, die für die Nacht auf kommenden Samstag vorhergesagt wurde. Der Mond werde dabei nicht komplett verdunkelt, sondern kupferrot glimmen, da die Erdatmosphäre das Licht breche und langwellige Strahlung in den Kernschatten werfe.
    Der Sprecher erzählte von allerlei Mythen, die sich um den ›verblutenden Mond‹ rankten. Ein Himmelsdrache verspeise den Trabanten. Die Finsternis als Vorbotin der Apokalypse. Die alten Kreter machten Lärm, um die bösen Geister zu vertreiben, mesopotamische Könige erlegten sich Buße auf. Bereits im vierten Jahrhundert vor Christus hatte man aufgrund der runden Form des Erdschattens erkannt, dass die Erde eine Kugel sein müsse. Aristarch von Samos schloss aus seinen Beobachtungen sogar, dass die Erde um die Sonne kreise – fast zwei Jahrtausende vor Kepler.
    Im Dreieck Düsseldorf-Süd bog Anna ab auf die A 59 in Richtung Leverkusen. Die Strecke war wenig befahren. Der BMW ihres Vaters beschleunigte mühelos auf zweihundert. Nach dem nächsten Autobahnkreuz geriet Anna in einen Stau. Sie drängelte sich auf die linke Spur, doch das taten auch andere und es ging nicht schneller voran als zuvor.
    Der Empfang wurde schlechter, Anna schaltete das Radio aus. Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Mutter zurück.
    Johanna Winkler, die sich nicht gern Mama nennen ließ, sondern lieber Jo. Die ihre große, hagere Figur in wallende Gewänder hüllte. Anna hatte stets das lange Haar ihrer Mutter bewundert.
    An ein Bild ihrer Kindheit erinnerte sie sich deutlich: Jo, die auf dem Fußboden hockend über einer Landkarte brütete und mit einem Zirkel nachmaß, in welchem Umkreis alles zerstört wäre, wenn eine Atombombe Düsseldorf träfe. Schockiert lernte Klein-Anna, dass Holzbüttgen nicht verschont bleiben würde. Jo ängstigte sie: Der US-Präsident bereite den Krieg gegen die Sowjetunion vor.
    Andauernd hatte in jenen Jahren die Welt am Abgrund gestanden. Nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl hatte Anna tagelang das Haus hüten müssen – laut ihrer Mutter hatte in jedem Regentropfen der Strahlentod gelauert.
    Ihr Vater war damals noch Polizist gewesen, aber ehrenamtlich stark engagiert für die SPD und für die Bergarbeitergewerkschaft, der er seit seiner Jugend angehörte. Den Abend vor fast zwanzig Jahren, als der Streit ihrer Eltern eskalierte, hatte Anna noch deutlich vor Augen. Die Fernsehnachrichten hatten Bilder einer großen Demonstration im Hunsrück gezeigt – hunderttausend Raketengegner in einem Kaff namens Hasselbach.
    Papa brachte sie nach der Tagesschau ins Bett, doch Klein-Anna hielt es im Dunkeln nicht aus und schlich zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich hinter einem Sessel verbarg.
    Es lief ein Film über einen toten Musiker. Bunte, hektische Konzertbilder flimmerten auf der Mattscheibe. Dazwischen Interviews, die Anna langweilig fand.
    Irgendwann bekam Jo diese unangenehme Stimme, die Anna manchmal hörte, wenn sie schon im Bett lag. Nur diesmal lauter als sonst.
    Anna musste niesen, weil ihr kalt wurde. Papa entdeckte sie und brachte sie ein zweites Mal ins Bett.
    »Was hat Mama eigentlich?«, wollte sie wissen.
    »Du weißt, sie hat immer etwas«, antwortete er.
    Zwei Wochen später war Jo nach Köln gezogen, obwohl diese Stadt doch genauso von einer Atomrakete hätte getroffen werden können.
    Anna verließ die Autobahn und kurvte durch hügelige Landschaft. Ein Schild: Waldklinik Rotenstein – Therapiezentrum .
    Das Gebäude stammte aus den Sechzigerjahren, schien aber frisch renoviert zu sein und lag
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