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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall
Autoren: David Zurdo
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zwei Stühle – einen für Audrey und einen für den Patienten –, einen kleinen Holztisch, der früher in einer Grund-schule gestanden hatte, und eine einfache Lampe, deren Glühbirne hin und wieder flackerte. Wollte man einen Preis für den deprimierendsten Raum der Welt vergeben – dieses Zimmer hätte hervorragende Gewinnchancen.
    »Heute scheint die Sonne«, meinte Audrey. »Ich könnte auch im Garten mit dem Patienten sprechen.«
    »Aber ja, natürlich. Wie du möchtest. Aber er heißt nicht Patient. Er heißt Daniel.«
    »Ich weiß.«
    Hinter dem Heim gab es einen Garten von beachtlicher Größe. Wie im Gebäude zeigte sich auch dort die Vernachlässigung, doch es wuchsen ein paar Blumen, und der Rasen war von einem kräftigen, satten Grün. Über den Garten verstreut standen mehrere Steinbänke. Auf einer davon saß Daniel, als Audrey und die Oberin sich ihm näherten.
    »Hallo, Daniel«, begrüßte ihn die Nonne.
    »Hallo.«
    Er wirkte zufrieden. Seine Gesichtshaut hatte sich in der Herbstsonne gerötet.
    »Hattest du heute Nacht Alpträume?«
    Bei dieser Frage veränderte sich Daniels Miene. Er wurde sehr ernst und begann zu husten. Dieser rauhe, lang anhalten-de Husten trat seit dem Brand regelmäßig auf. Endlich klang er ab, doch Daniel antwortete nicht, und die Hand, die seinen geliebten Blumentopf die ganze Zeit über nicht losgelassen hatte, schloss sich fester darum.
    »Möchtest du, dass ich deine Pflanze ein bisschen gieße?«
    Diese Frage stellte Audrey. Nicht mit einer Million Liter Wasser und dem besten Dünger der Welt hätte man diesen toten Stengel wieder zum Leben erwecken können. Dessen war sie sich sicher. Doch Daniels Augen leuchteten auf.
    »Ja. Meine Rose … braucht Wasser.«
    »Ah. Es ist also eine Rose …?«
    »Ich lasse euch allein«, flüsterte die Nonne, als sie sah, dass Audrey bereits mit ihrer Arbeit begonnen hatte.
    »Es ist die … schönste … Rose der Welt.«
    »Aber sicher. Ich heiße Audrey. Du bist Daniel, stimmt’s?«
    »Ja. Meine Rose braucht … Wasser.«
    Audrey sah sich um. Sie wusste, dass es irgendwo in der Nähe einen Schlauch gab, mit dem der Garten gesprengt wurde.
    »Du hast Blumen gern, nicht wahr? Gibt es in deinen Träumen auch Blumen, Daniel?«
    Der Gärtner wurde wieder ernst. Audrey dachte schon, er würde auch diesmal nicht antworten, doch da sagte er: »Jetzt nicht mehr … Sie sind alle tot.«

5
    Frankreich, zwei Jahre zuvor
    »Wie oft habe ich mir schon gewünscht, ich könnte diese Bilder löschen. Sie haben sich mir förmlich eingeprägt … Aber ich kann es nicht. Jede Nacht suchen sie mich heim.«
    Pater Albert Cloister war an diesem Nachmittag erst in der Stadt des Lichts, der Hauptstadt Frankreichs, angekommen, um eine für seine Nachforschungen wichtige Zeugin zu hören. Nun lief sein digitales Aufnahmegerät und zeichnete die Worte einer alten Dame aus der Pariser Oberschicht auf, die sich schließlich doch mit seiner Befragung einverstanden erklärt hatte. Das hatten nur ihre tiefen religiösen Überzeugungen ermöglicht. Wenn man eine Tragödie erlebt hat, ist das Letzte, was man will, sie in der Erinnerung nochmals zu durchleben.
    »Ja, Pater, anfangs verspürte ich ein angenehmes Gefühl, ein Gefühl von Frieden, würde ich sagen. Ich schwebte wie ein ätherisches Wesen auf ein weißes Licht zu, das mich mag-netisch anzuziehen schien, immer stärker. Als ich das Licht erreichte, war ich voller Freude, ohne Angst vor dem Tod. Den hatte ich mehr oder weniger akzeptiert.«
    Die alte Dame in ihrem Rollstuhl hielt inne. Ihr Blick war trostlos. Eine Enkelin war bei der Befragung zugegen. Sie hatte gerade den Kaffee serviert und reichte ihrer Großmutter nun eine Tasse. Mit zitternder Hand führte diese das dampfende Getränk an die Lippen. Sie schloss die Augen und trank einen Schluck. Die Haut an ihrer Kehle erbebte. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Blick unendlich traurig.
    »Aber ich sah auch, was hinter dem Licht war. Ich sah noch etwas anderes. Und das, Pater, war nicht, was ich erwartet hatte … Ich bin außerstande, über diese Erfahrung zu re-den. Ich möchte nicht einmal daran denken. Was ich dort gesehen habe, ist unbeschreiblich. Es war schlimmer als böse … Wenn ich diesem Gespräch zugestimmt habe, dann nur, weil …«
    »Ich weiß«, sagte Pater Cloister, der wachsende Beklemmung verspürte. »Und ich möchte Ihnen nochmals aufrichtig danken, im Namen meines Bischofs und meiner Kongregation. Aber ich muss Sie
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