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45 - Waldröschen 04 - Verschollen

45 - Waldröschen 04 - Verschollen

Titel: 45 - Waldröschen 04 - Verschollen
Autoren: Karl May
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halblaut, da er die in ihren Hütten noch schlafenden Gefährten nicht aufwecken wollte, aber voll und wohltönend der nahenden Sonne entgegen. Es lag in diesem Ton eine Erhebung, eine Demut und doch auch ein so freudiges Vertrauen, daß dem Kapitän die Tränen in die Augen traten und auch der Graf von Rührung überwältigt wurde. Der Beter fuhr mit der sechsten Strophe des bekannten Liedes fort:
    „Hoff, o bedrängte Seele,
Hoff, und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle,
Da dich der Kummer nagt,
Mit großen Gnaden rücken;
Erwarte nur die Zeit,
So wirst du schon erblicken
Die Sonn' der schönsten Zeit!“
    Jetzt wollte der Graf hervortreten, aber der Kapitän hielt ihn zurück, denn der Kniende betete weiter:
    „Ja, Herr, du Vater aller deiner Kinder, du Trost der Traurigen, du Hilfe der Bedrängten, dein bin ich und auf dich baue ich. Hier in der Öde des weiten Weltmeeres ertönt eine Stimme zu dir, ein Schrei aus tiefster Not, ein Ruf um Gnade und Erbarmen. Mein Herz will brechen, und mein Leben möchte in Gram zerfließen. Rette, rette uns, o Weltenherrscher! Führe uns fort von hier, wo die Fluten des Elends uns zu ersticken drohen. Sende einen Menschen, der dein Engel sei und uns erlöst vom Verschmachten in der Tiefe der Verzweiflung. Ist es aber in deinem Rat beschlossen, daß wir hier ausharren sollen bis zum Tod, so erbarme dich derer, die daheim für unsere Erlösung beten! Gib ihnen ein starkes Herz, zu ertragen, was du über sie beschieden hast; träufle Trost und Frieden in ihre Seelen; trockne ihre Tränen und stille ihren Jammer! Du aber sei gelobt und gepriesen für alles, was du uns sendest; denn deine Wege sind wunderbar, und deine Weisheit ist unerforschlich von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!“
    Jetzt erhob er sich. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, aber das Gottvertrauen erhellte seine Züge. Da aber zuckte er plötzlich zusammen, so jäh und so heftig, als hätte er einen schweren Schlag erhalten, denn es hatte sich, obgleich er wußte, daß die anderen noch alle schliefen, eine Hand, also eine fremde, auf seine Schulter gelegt, und eine Stimme sagte in deutscher Sprache:
    „Ihr Gebet ist erhört, und der Engel ist da, der Sie erlösen soll!“
    Er fuhr herum und sah den weinenden Kapitän vor sich stehen, hinter ihm den Grafen. Er taumelte zurück und fiel wieder auf die Knie. Seine Augen waren weit geöffnet; seine Lippen bewegten sich; sie wollten sprechen, brachten aber kein Wort hervor. Er machte beinahe den Eindruck eines geistesgestörten, von einem furchtbaren Schreck gelähmten Menschen.
    Der Kapitän erkannte seinen Fehler. Er hatte nicht daran gedacht, daß auch die Freude einen Menschen töten könne; er war höchst unvorsichtig gewesen.
    „Mein Gott, was habe ich getan?“ sagte er. „Fassen Sie sich, ja fassen Sie sich!“
    Da endlich gurgelte aus Sternaus Mund ein im Anfang noch unverständliches Gemurmel, welches aber dann nach und nach in Laute und Worte überging:
    „Oh – oh! –! Ah –! O Gott, o Gott! Ist's möglich! Wer sind Sie?“
    „Ich bin ein deutscher Seekapitän, der sie von hier wegbringen will. Mein Schiff ankert dort hinter der Höhe.“
    Er hatte erwartet, daß Sternau sich nun aus einer knienden Stellung erheben werde; aber dies geschah nicht; dieser sank vielmehr langsam und wie vernichtet zusammen: Seine Arme fielen herab; sein Kopf neigte sich, und sein doch so starker, riesenkräftiger Körper legte sich matt in das Gras nieder. Die beiden Männer sahen, daß seine ganze Gestalt bebte; sie hörten sein herzbrechendes Schluchzen, und sie störten ihn nicht. Der Kapitän ahnte, daß sich in dieser Tränenflut die schlimme Wirkung seines unvorsichtigen Tuns auflösen werde, und er hatte recht.
    Nach einer Weile stand Sternau langsam auf, sah die beiden mit noch immer dem Ausdruck des Zweifels an und fragte:
    „Ist's wahr, ist's denn wirklich wahr, daß ich Sie sehe? Es sind Menschen da? Es ist ein Schiff gekommen? Gott, mein Gott, welche Seligkeit! Ich danke dir, aber fast hätte sie mich getötet!“
    „Verzeihen Sie!“ bat der Kapitän. „Ich bin ganz unvorsichtig gewesen; aber Sie wurden mir als ein Mann beschrieben, bei dem ich es mir zu getrauen glaubte, ein wenig unvorbereitet zu erscheinen.“
    „Ich? Ich Ihnen beschrieben? Unmöglich!“
    „Und doch! Ich müßte mich sehr irren, wenn ich Sie an Ihrer Gestalt nicht sofort als Herrn Doktor Sternau erkennen wollte.“
    „Wahrhaftig, Sie kennen mich! Welch ein Rätsel! Wer
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