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34° Ost

Titel: 34° Ost
Autoren: Coppel Alfred
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können, dass auch der höchste US-Beamte nicht alleinverantwortlich entscheiden konnte. Dies war eine der vielen Ungereimtheiten der fast byzantinischen Denkweise der Sowjets, dachte Tate. Ziemlich unverständlich, wenn man in Betracht zog, dass seit Nikita Chruschtschow kein sowjetischer Führer mehr eine Entscheidung getroffen hatte, ohne der Billigung seiner Kollegen sicher zu sein.
    Tate warf einen Blick auf den Richter, um festzustellen, ob auch er den herausfordernden Ton Oberst Jermolows bemerkt hatte, aber der Richter saß nur still da und kaute an seiner Pfeife.
    General Ulanin hievte sich schwerfällig auf die Beine. Sein Gesicht war schweißnass, die Fettwülste im Nacken quollen über den Kragen seiner Uniformjacke. Er hatte dunkle Schweißflecke unter den Achseln. »Bei der nächsten Sitzung, Jermolow. Nicht jetzt.«
    Jermolow schien nicht bereit, die Angelegenheit ad acta zu legen, und so entschloß sich Bill Tate, es für ihn zu tun. »Die heutige Liste uns zur Last gelegter Verstöße werden wir so lange nicht akzeptieren, bis unsere Liste sowjetischer und ägyptischer Verstöße zu den Akten genommen wird«, sagte er. »Wenn sonst nichts Wesentliches vorliegt, können wir für heute Schluß machen.« Er klappte seine Mappe zu und erhob sich. Richter Seidel stand ebenfalls auf.
    Stühle scharrten auf der anderen Seite des Tisches. Jermolow und Nowotny schienen sich absichtlich Zeit zu lassen. Müde und übelgelaunt warf General Ulanin seinen Untergebenen einen strafenden Blick zu, der seine Verärgerung über ihr unmilitärisches Benehmen zum Ausdruck brachte. Bill Tate unterdrückte den Impuls, dem alten General zuzulächeln.
    Die russische Dolmetscherin ordnete ihre Papiere. Tate setzte sein blaues Barett auf und verabschiedete sich mit einem sehr formalen Gruß von General Ulanin. Die sowjetischen Offiziere erwiderten den Gruß, und beide Gruppen traten in die grelle Vormittagssonne hinaus.
    General Ulanin berührte Tate am Arm und zog ihn zur Seite. Colonel Seidel verwickelte Sacharow in ein höfliches Gespräch, während Nowotny und Jermolow nach ihren Fahrern Ausschau hielten.
    »Ich muß mich für meine Offiziere entschuldigen«, begann Ulanin. »Sie sind entweder schon zu alt, um sich noch ihrer guten Manieren zu erinnern, oder noch zu jung, um welche zu haben.« Er sprach fließend Englisch, wenn auch mit merklichem Akzent.
    »Nicht der Rede wert, General.«
    »Zuweilen vergessen wir, dass wir keine Gegner mehr sind.« Manchmal schien der alte Mann voll kindlicher Unschuld, und Tate fand dies sehr rührend.
    »Peking ist, wie ich höre, ziemlich unglücklich über die Verlängerung des Abkommens«, fuhr der General fort. »Nicht offiziell natürlich. Aber Nowotnys Gewährsleute meinen, die Militaristen in Peking opponieren gegen den offiziellen Kurs.«
    Nowotny hatte selbstverständlich ausgezeichnete ›Gewährsleute‹ innerhalb des kommunistischen Blocks. »Besteht die Möglichkeit, dass sie sich einmischen?« fragte Tate.
    Ulanin schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Aber man sollte nicht vergessen, dass sie immer noch ihre Werkzeuge und ihre Handlanger haben.« Sein Blick fiel auf den Politoffizier. »Haben Sie von Ihrem Nachrichtendienst etwas gehört?«
    »Nichts. Sogar die Arabische Front hat sich auf unserem Gebiet still verhalten«, antwortete Tate. Es gab Berichte über Umtriebe in Syrien und im Irak, und über das Verschwinden des Abu-Mussa-Kommandos aus dem Libanon, aber es schien ihm nicht nötig, diese Informationen mit dem Russen zu teilen, und es gab auch keinen Grund zu der Annahme, dass die Informationen von Bedeutung waren.
    Ulanin senkte seine Stimme. »William, ich kann Ihnen inoffiziell mitteilen, dass der Stellvertretende Ministerpräsident auf dem Seeweg eintrifft.«
    »Das habe ich angenommen, Juri«, erwiderte Bill Tate, »aber ich danke Ihnen für die Bestätigung.« Er gestattete sich ein leises Lächeln. »Es bestand doch wirklich kein Grund, ein Geheimnis daraus zu machen.«
    »Das ist so unsere Art. Seitdem wir Verbündete im Großen Vaterländischen Krieg waren, begegnen wir euch mit zunehmendem Misstrauen.«
    »Das kann man wohl sagen, Juri.«
    »Rostow reist auf einem Kriegsschiff. Gestern, in Latakia, ist er mit den Syrern zusammengetroffen.«
    Diese Mitteilung bereitete Tate ein wenig Sorge. Latakia lag an der syrischen Küste, nördlich von Tripolis. Zwischen Latakia und Alexandrien kreuzten die Schiffe der amerikanischen Sechsten Flotte, die
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