Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2x Professor Manstein

2x Professor Manstein

Titel: 2x Professor Manstein
Autoren: Kurt Mahr
Vom Netzwerk:
Zigarettenstummel beiseite – er blieb über dem gleichen Papierkorb eine Sekunde lang nachdenklich stehen – er schaute auf die gleiche prüfende Art wie Manstein nach oben, um zu sehen, wie weit der Schutz des Daches noch reichte.
    Aus etwa fünf Metern Entfernung erkannte Manstein, daß der Mann ihm so ähnlich sah wie sein eigenes Spiegelbild. Er kam direkt auf ihn zu. Manstein wollte ihn ansprechen, als er erschreckt feststellte, daß der Mann ihn überhaupt nicht zu bemerken schien. Er sah durch ihn hindurch, als sei er nicht vorhanden, und offenbar hatte er auch die Absicht, geradenwegs durch ihn hindurchzumarschieren. Manstein blieb gebannt stehen. Er war zu aufgeregt, um auszuweichen. Es war eines von Mansteins aufregendsten Erlebnissen, als der Fremde ihn plötzlich durchdrang, als sei er ein Nichts, und mit ihm verschmolz.
    Professor Manstein drehte sich ein paarmal auf dem Absatz herum. Der Fremde war verschwunden – mit ihm verschmolzen. Manstein warf die Zigarette weg und fuhr sich über die Stirn. Kein Zweifel, daß er bei dieser Begebenheit geschwitzt hatte wie ein Student im Examen.
    Er begann zu grinsen. Er erinnerte sich an den gestrigen Abend, den er im Kreise von Bekannten verbracht und dazu benutzt hatte, die geglückte Promotion eines seiner Assistenten zu feiern. Manstein war sich völlig sicher, daß er zumindest bis ein Uhr nachts nur erstklassigen Wein getrunken hatte. Von diesem Augenblick an war jedoch seine Erinnerung nicht mehr lückenlos, und der Himmel mochte wissen, was ihm die Leute noch alles eingeflößt hatten. Er redete sich ein, es sei eine amüsante Abwechslung, am Tage danach an Stelle von weißen Mäusen etwas Aufregenderes zu sehen.
    Nach ein paar Minuten fuhr der Eilzug ein. Professor Manstein mußte wieder ein paar Meter zurückgehen, weil der Zug nur einen einzigen Erster-Klasse-Wagen besaß und dieser in der Mitte lief. Der Wagen war leer, und Manstein machte es sich in einem der Einzelsitze bequem. Er nahm eine Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. Als der Zug anruckte, stellte er fest, daß er dieselbe Zeitung gestern schon einmal gelesen hatte und wunderte sich über die Nachlässigkeit seines Zeitungshändlers. Gelangweilt sah er zum Fenster hinaus – auf die Strecke, die er schon mindestens hundertmal in jeder Richtung in seinem Leben gefahren war.
    Der Zug bemühte sich, auf der kurzen Strecke bis nach Frankfurt seine Verspätung wieder herauszuholen. Nichtsdestoweniger wurde diese Bemühung im letzten Augenblick durch die Unerbittlichkeit des Frankfurter Gleisbildstellwerkes vereitelt, das dem eiligen Eilzug die Einfahrt versperrte.
    Manstein blieb eine Weile ruhig sitzen. Als ihm der Aufenthalt zu lange dauerte, stand er auf, zog das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus. Gewöhnlich gab es bei derartigen Aufenthalten nichts anderes zu sehen als ein rot leuchtendes Signal. Was Manstein jedoch aufs höchste faszinierte, war das, was er sah, als der Signalflügel nach oben klappte. Die Scheibe leuchtete nicht grün, sondern blau. Manstein wischte sich über die Augen und schaute noch einmal hin. Die Scheibe war blau – unzweifelhaft.
    Manstein ließ sich resigniert in seinen Sitz fallen und nahm sich vor, nie wieder in seinem Leben mehr zu trinken, als sein Gedächtnis vertrug. Die seltsame Begegnung auf dem Darmstädter Bahnhof und die blau leuchtende Signalscheibe gaben ihm mehr zu denken, als er sich selbst eingestehen wollte.
    Die Ankunft auf dem Bahnhof in Frankfurt war nicht dazu angetan, seine Stimmung zu verbessern. Er hatte erwartet, zumindest von einem der Leute abgeholt zu werden, deretwegen er hierhergekommen war. Auf dem Bahnsteig war jedoch niemand. Mißmutig ging Manstein durch die Sperre. Vor dem Bahnhof nahm er ein Taxi und gab dem Chauffeur die Adresse, die auf dem Schreiben stand, das er gestern erhalten hatte. Ein Bekannter, Dozent an der Frankfurter Universität, hatte ihn flehentlich darum gebeten, heute an einem der Institute einen Fachvortrag zu halten. Das Institut lag im Westen der Stadt – in der Gegend, in der die vornehmen Leute zu wohnen pflegten. Während der Fahrt hatte Manstein des öfteren Gelegenheit, zu sehen, daß auch die Ampeln blau leuchteten, wenn sie die Fahrt frei gaben. Er begann, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß ihn der gestrige Abend seinen Farbsinn gekostet hatte.
    Das Taxi wand sich durch den Verkehr der Innenstadt und erreichte die stilleren Straßen des Westends. Als es an einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher