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255 - Winterhexe

255 - Winterhexe

Titel: 255 - Winterhexe
Autoren: Manfred Weinland
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schließlich zurück auf die Straße, zurück zu den anderen.
    Es war Alma, Brags kinderlose Witwe, die ihm entgegenkam, als hätte sie nach ihm gesucht, und ihn mit den Worten empfing: »Alle sind wohlauf, kommen langsam wieder zu sich. Was ist mit Fynn - ist er noch da?«
    Coogan blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. »Was soll diese Frage?«, krächzte er und hatte dabei den Eindruck, dass seine Stimmbänder aus rostigen Drähten bestünden.
    »Weil es so aussieht«, antwortete Alma, »dass alle Kinder verschwunden sind. Entführt!«
    ***
    Der Arm der Hexe - er reichte weit. Weiter als je für möglich gehalten.
    Wie hat sie das gemacht? , dachte Coogan, während er mühsam um seine Fassung rang. Er fühlte die Blicke der anderen auf sich lasten. Sie hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt - von wo Coogan mit seiner kleinen Schar am Morgen losgezogen war, um die Hexe das Fürchten zu lehren.
    Sie hatte den Spieß umgedreht, scheinbar mühelos, und mehr als nur das.
    Die Frage nach dem Wie und Warum klebte sich an jeden Gedanken, der sich durch Coogans Hirn wälzte, während er mit matter Stimme zu den Leuten sprach, die ihn seit Jahren immer wieder in seinem Amt als Bürgermeister bestätigten, immer zufrieden mit seinem Engagement gewesen waren. Ihm war klar, dass es damit vorbei war. Eine neue Zeitrechnung begann. Und falls sich ihre Befürchtung bestätigte, dass die Winterhexe hinter der Entführung der Kinder steckte, würde die heue Ära nichts als Kummer und Not bringen.
    »Was haben wir getan?« - »Wir hätten ihren Zorn nicht wecken dürfen!« - »Warum haben wir uns gegen sie aufgelehnt?«
    Von allen Seiten drangen Rufe auf Coogan ein. Geistesabwesend ließ er seinen Blick über die Menge schweifen. Alle, die bei ihrer Rückkehr ohnmächtig gewesen waren, hatten sich inzwischen wieder erholt. Was auch immer es gewesen war, die Wirkung ließ binnen einer Stunde nach - eine Stunde, die genügt hatte, die Dörfler in Verzweiflung zu stürzen. Sie ihres wichtigsten und wertvollsten Gutes zu berauben.
    »Ruhe!«
    Fast so grollend wie vormals der Gewitterdonner rollte Coogans Stimme über die aufgebrachte Menge hinweg, und wie durch ein Wunder fand sie Gehör. Nach und nach verstummte jedes Gespräch, jedes Gemurmel.
    Die Worte, die Coogans Mund verließen, überraschten ihn selbst. »Ich weiß, was ihr denkt«, sagte er. »Und ich weiß, was ihr fühlt - weil ich selbst so denke und fühle. Wir haben verloren. Die Hexe hat uns in unsere Schranken verwiesen. Aber…« Er holte tief Luft, setzte erneut an. »Aber wenn wir jetzt kapitulieren, wenn wir jetzt klein beigeben, werden wir nie wieder Ruhe finden.«
    »Hast du nicht selbst ein Kind verloren, Ben Coogan?«, rief eine aufgebrachte Frauenstimme. »Wie kannst du dann so sprechen? Ist er dir nichts wert?«
    In Coogans Herz schien sich die imaginäre Klinge, die seit Fynns Verschwinden dort steckte, in der Wunde zu drehen. Er stöhnte auf. Für einen Moment drohte er seine vordergründige Fassung zu verlieren. »Er ist alles, was ich noch habe - ich wüsste nicht, was mir mehr wert wäre.«
    »Dann solltest du anfangen, die Hexe um Vergebung zu bitten«, gab die Frau, deren Stimme von irgendwo weit hinten kam, zurück. »Ich für mein Teil jedenfalls will es tun.« Sie verstummte kurz, aber nur um ihre Stimme noch lauter und kraftvoller über den Platz hallen zu lassen: »Winterhexe! Wenn du mich hörst: Gib mir meine Tochter zurück! Sie ist erst vier Jahre alt! Straf sie nicht für eine Dummheit, die wir Erwachsenen begangen haben. Lass Gnade walten. Gib…« Sie räusperte sich hörbar. »Gib uns unsere Kinder zurück. Wir flehen dich an!«
    »Wir flehen dich an!« , griff die Menge den verzweifelten Ruf auf.
    Coogan machte keinen Hehl aus seiner Erschütterung. Gleichzeitig aber fragte er sich, ob sie nicht recht taten. Ob er nicht hätte einstimmen müssen in ihr Betteln, das Musik in den Ohren der Hexe sein musste. Falls sie es hörte.
    »Ihr wollt aufgeben?«, fragte er müde.
    Sie hörten ihn nicht, intonierten unablässig, was eine aus ihrer Mitte ihnen vorgegeben hatte: »Wir flehen dich an! Gib uns unsere Kinder zurück…«
    Coogan kehrte der Menge den Rücken und schritt müde heim. In das leere Haus.
    ***
    Womit niemand wirklich gerechnet hatte, geschah: Der Morgen brachte den aufgewühlten Seelen Linderung. Von Osten her, aus den Strahlen der aufgehenden Sonne, hielt eine jammernde Prozession auf das Dorf zu:
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