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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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passiert war. »Sie war fünfzehn oder sechzehn«, so hatte Onkel Claas ihm erzählt, »da fiel sie mal vom Heuboden und hatte links auf der Stirn eine Beule, fast so groß wie ein Taubenei. Natürlich verulkten wir sie deswegen, und sie geriet dann so in Rage, daß sie mit der Peitsche hinter uns her war. Und …, was soll ich dir sagen? Die Jagd ging durchs ganze Haus und schließlich auch über den Heuboden. Und gerade hatte sie mir mit der Peitsche eins über den Rücken gezogen, da rutschte sie aus und fiel ein zweites Mal vom Boden runter in die Scheune. Das Ergebnis. Nun hatte sie auch rechts auf der Stirn eine Beule, genauso groß wie die erste, und sah aus wie eine Kuh mit abgebrochenen Hörnern. Klar, daß unser Spott keine Grenzen kannte. Er gipfelte darin, daß Peter beim Mittagessen etwas unter seinem Hemd hervorzog und sagte: ›Hier hast du einen passenden Verband für deine Wunden.‹ Heimlich hatte er aus ihrer Kommode einen Büstenhalter geholt, und den hielt er nun in die Höhe. Doch da hat unsere Mutter ein Machtwort gesprochen und ihn samt seinem noch halbgefüllten Teller in die Waschküche verbannt.«
Olaf schmunzelte über die alte Geschichte und versuchte, sich Tante Luise als gehörntes Wesen vorzustellen, doch ganz plötzlich, ohne Übergang, tauchten eigene Erinnerungen auf. Sommer 1959. John und er bei den Großeltern. Ein Sonnabend. »Schwingt euch auf eure Drahtesel und fahrt nach Tönning zum Jahrmarkt!« sagte der gutgelaunte Großvater und gab jedem ein Fünfmarkstück. »Aber ihr seid heute abend um acht wieder zu Hause!«
Sie steckten das Geld ein, ließen sich von Georgine Proviant mitgeben und fuhren los. Doch ihr Ziel war nicht Tönning. Zwar verließen sie den Ort in Richtung Süden, weil sie dachten, der Großvater sehe ihnen vielleicht vom Giebelfenster aus mit dem Fernglas nach, bogen aber bald rechts ab und hielten auf Westerhever zu. Dafür hatte es zwischen ihnen keiner großen Absprache, sondern nur einiger Handzeichen bedurft. Es stand ja längst fest, daß sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit einen Plan verwirklichen würden, der seit Wochen in ihren Köpfen steckte. Auf des Großvaters Kutter, der nördlich von Westerhever im Wattenmeer geankert war, wollten sie eine heimliche Seereise machen, und so hatten sie an diesem Morgen mit kindlichen Vergnügungen wie Riesenrad und Geisterbahn nichts im Sinn.
Endlich am Ziel, bestiegen sie den alten Kahn, brachten mit viel Mühe die kleine Maschine in Gang und tuckerten los. Vom Flutkalender her wußten sie, daß ihnen bis zur Rückkehr nur dreieinhalb Stunden Zeit blieben. Hielten sie die nicht ein, so würden sie einen halben Tag im Schlick festsitzen. Sie hatten es sich so schön ausgemalt, einmal kurz hinüberzuschippern zur Insel Pellworm, dort mit Georgines Wurstbroten und Eiern eine zünftige Bordmahlzeit zu halten, vielleicht noch, falls die Zeit reichte, das südliche Inselufer zu inspizieren, dann die sechs Meilen zurückzufahren und den Kutter wieder zu ankern. Im Haubarg würden sie dann den Großeltern und der neugierigen Georgine ein paar der üblichen Rummelplatzgeschichten auftischen.
Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wettergott gemacht. Auf der Rückfahrt erwischte es sie. Erst war es nur ein mäßiger Wind aus Südsüdost, der ihnen ein bißchen zu schaffen machte, aber dann wurde er, indem er auf Nordwest drehte, zum Krümper und wuchs sich zu einem handfesten Sturm aus, der sie auf die Hallig Südfall zutrieb. Und dort, bei der Tonne fünf, gab die alte Maschine ihren Geist auf. Sie hofften, der Ausfall sei nur ein Treibstoffproblem. Vor der Abfahrt hatten sie eins der Fünfmarkstücke in Benzin umgesetzt. John war mit dem an Bord vorgefundenen Kanister noch schnell losgeradelt und hatte ihn füllen lassen. Doch auch als sie nun nachgeschüttet hatten und neu anzuwerfen versuchten, regte sich nichts. Ihr Fahrzeug blieb manövrierunfähig. Schließlich saßen sie auf einer Untiefe fest, und derweil fegte der Sturm, der fast Orkanstärke angenommen hatte, über die Schiffsplanken und drohte die halbwüchsigen Skipper von Bord zu reißen. Anderthalb furchtbare Stunden lang hielten sie sich auf der GESINE, wie der Großvater seinen Kutter einst benannt hatte. Ja, und dann gelang es einer übers Deck schlagenden Welle, ihn, Olaf, in die aufgewühlte See zu schleudern. Nie im Leben würde er diesen Augenblick vergessen, als der mächtige Wasserschwall ihn packte und wegtrug, weil die Kraft in seinen
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