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1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
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Rattenfänger geschrieben hast«, sagte Onkel Eric. »Komischer Kauz, der Kerl.«
    Der Rattenfänger, eine Story im Innenteil, Brosamen vom Tisch des verdammten Jack Whitehead.
    »Ja«, lächelte ich, nickte hierhin und dorthin und stellte mir meinen Vater vor, wie er in dem leeren Sessel neben der Anrichte saß und die letzte Seite zuerst las.
    Es gab Schulterklopfen, und für einen kurzen Augenblick hielt ich die Zeitung in der Hand und warf einen Blick darauf.
    Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland.
    Ich las nicht weiter.
    Wieder machte die Zeitung die Runde.
    Ich sah meine Schwester, die auf der anderen Seite des Zimmers auf dem Fensterbrett saß, Augen zu, Hände vorm Mund.
    Sie schlug die Augen auf und starrte mich an. Ich wollte aufstehen und zu ihr gehen, doch sie erhob sich und ging hinaus.
    Ich wollte hinter ihr her und sagen:
    ›Tut mir leid, tut mir leid; tut mir leid, daß das ausgerechnet heute passieren mußte.‹
    »Bald werden wir ihn um ein Autogramm bitten müssen, was?« lachte Tante Madge und reichte mir einen Tee.
    »Für mich wird er immer der kleine Eddie bleiben«, sagte Tante Edie aus Altrincham.
    »Danke«, sagte ich.
    »Sieht nicht besonders gut aus, was?« fragte Tante Madge.
    »Nein«, log ich.
    »Ist nicht das erste Mal, oder?« fragte Tante Edie, meine Hand in der einen, eine Tasse Tee in der anderen Hand.
    »Ja, vor ein paar Jahren gab’s das schon mal. Die Kleine drüben in Castleford«, antwortete meine Tante Madge.
    »Das ist wirklich schon ‘ne Weile her, ja. Aber da war noch eine, erst kürzlich, mehr bei uns in der Gegend«, sagte Tante Edie und nahm einen Schluck Tee.
    »Ja, in Rochdale. Ich erinnere mich«, meinte Tante Madge und hielt ihre Untertasse fester.
    »Man hat sie nie gefunden«, seufzte Tante Edie.
    »Wirklich?« fragte ich.
    »Konnte auch nie jemandem angehängt werden.«
    »Ja, niemandem«, sagte Tante Madge.
    »Früher hat es so was nicht gegeben.«
    »Die in Manchester waren die ersten.«
    »Ja«, murmelte Tante Edie und ließ meine Hand los.
    »Das war grausam, einfach grausam«, flüsterte Tante Madge.
    »Das muß man sich mal vorstellen, es gibt Eltern, die lassen ihre Töchter einfach so herumlaufen, als sei nie was gewesen.«
    »Dummheit stirbt eben nie aus.«
    »Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis«, sagte Tante Edie und schaute hinaus in den Garten und den Regen.
    Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, machte, daß er hinauskam.
     
    Es regnete Bindfaden, verdammte Bindfäden.
    Die MI zurück nach Leeds, dichter LKW-Verkehr, es ging nur langsam voran. Ich fuhr, so schnell ich konnte, und brachte den Viva im Regen auf 110.
    Lokalradio:
    »Die Suche nach dem vermißten Schulmädchen Clare Kemplay aus Morley geht weiter, doch die Sorge wächst, daß …«
    Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, was ich bereits wußte:
    16.00 Uhr, das hieß, die Zeit war gegen mich, das hieß, sie war gegen Clare, das hieß, es war keine Zeit mehr, um Hintergrundinfos über vermißte Kinder zu beschaffen, das hieß, keine Fragen bei der Pressekonferenz um 17.00 Uhr.
    Scheiße, Scheiße, Scheiße.
    Ich verließ den Motorway mit hohem Tempo, wog das Für und Wider ab, meine Fragen einfach aufs Geratewohl zu stellen, gleich um 17.00 Uhr, mit nichts anderem in der Hand als dem Gerede zweier alter Tanten.
    Zwei vermißte Kinder, Castleford und Rochdale, keine Daten, nur Vermutungen.
    Vage Vermutungen ins Blaue hinein.
    Knopfdruck, landesweites Radio: 67 Mitarbeiter bei der Kentish Times und der Slough Evening Mail entlassen, Provinzjournalisten der National Union of Journalists bereiten sich darauf vor, vom 1. Januar an zu streiken.
    Edward Dunford, Provinzjournalist.
    Vage Vermutungen kriegen als erstes einen Tritt in den Hintern.
    Ich sah das Gesicht von Detective Chief Superintendent Oldman vor mir, sah das Gesicht meines Chefredakteurs vor mir, sah eine Wohnung in Chelsea vor mir mit einem wunderschönen Mädchen aus dem Süden namens Sophie oder Anna, das die Tür zumachte.
    Du kriegst vielleicht ‘ne Glatze, aber deshalb bist du noch kein Kojak.
    Ich parkte hinter der Millgarth Police Station, als gerade der Markt abgebaut wurde; der Rinnstein war voller Kohlblätter und vergammeltem Obst, und ich fragte mich, auf Sicherheit spielen oder auf Risiko?
    Ich krallte mich an das Lenkrad und schickte ein Gebet gen Himmel.
    BITTE, LASS KEIN ANDERES ARSCHLOCH DIESE FRAGE STELLEN.
    Ich wußte, es war ein Stoßgebet.
    Motor aus, ein weiteres Gebet vom
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