Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
Vom Netzwerk:
einen dunkelblauen Rollkragenpullover, eine hellblaue Jeans mit einem unverkennbaren Adlermotiv auf der hinteren linken Hosentasche und rote Stiefel. Als Clare die Schule verließ, hatte sie eine Plastiktüte von Co-op mit schwarzen Turnschuhen bei sich.«
    Oldman hält ein vergrößertes Photo von einem lächelnden Mädchen in die Höhe und sagt: »Abzüge dieses kürzlich aufgenommenen Schulphotos werden am Ende verteilt.«
    Er trinkt erneut einen Schluck Wasser.
    Stühle scharren, Papiere rascheln, die Mutter schnieft, der Vater starrt vor sich hin.
    »Mrs. Kemplay möchte nun kurz etwas sagen, in der Hoffnung, daß jemand aus der Bevölkerung, der Clare gestern nachmittag nach sechzehn Uhr gesehen hat oder über sonstige Informationen über Clares Verbleib oder Verschwinden verfügt, sich meldet, um uns bei unseren Ermittlungen zu helfen. Vielen Dank.«
    Detective Chief Superintendent Oldman schiebt das Mikrofon freundlich zu Mrs. Kemplay hin.
    Blitzlichter durchzucken den Konferenzraum und schrecken die Mutter auf, die in unsere Gesichter blinzelt.
    Ich schaue auf meinen Notizblock und die Räder, die das Band in meinem Philips Pocket Memo spulen.
    »Ich flehe Sie an, wenn Sie wissen, wo meine Clare ist, oder wenn Sie sie gestern nach sechzehn Uhr noch gesehen haben, bitte rufen Sie die Polizei an. Clare ist ein sehr glückliches Kind, und ich weiß, sie würde nie weglaufen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Bitte, wenn Sie wissen, wo sie ist, oder wenn Sie sie gesehen haben, bitte melden Sie sich bei der Polizei.«
    Ein unterdrücktes Hüsteln, dann Stille.
    Ich blicke auf.
    Mrs. Kemplay hat die Hände vorm Mund und die Augen geschlossen.
    Mr. Kemplay steht auf und setzt sich wieder hin, als Oldman fortfährt: »Meine Herren, ich habe Ihnen alle Informationen gegeben, über die wir im Augenblick verfügen. Es tut mir leid, aber wir haben jetzt nicht die Zeit, irgendwelche Fragen zu beantworten. Die nächste Pressekonferenz ist für siebzehn Uhr anberaumt, es sei denn, es gibt bis dahin weitere Entwicklungen. Ich danke Ihnen, meine Herren.«
    Stühle scharren, Papiere rascheln, aus Gemurmel wird Murren, aus Flüstern werden Worte.
    Weitere Entwicklungen, Scheiße.
    »Danke, meine Herren. Das wäre im Augenblick alles.«
    Detective Chief Superintendent Oldman erhebt sich und will hinausgehen, doch niemand am Tisch sonst rührt sich. Er dreht sich wieder um und nickt den Journalisten zu, die er in den grellen Fernsehscheinwerfern nicht sehen kann.
    »Danke, Jungs.«
    Ich schaue wieder auf meinen Notizblock, die Räder spulen noch immer das Band, und ich sehe die weiteren Entwicklungen mit dem Gesicht nach unten in einer orangefarbenen Regenjacke in einem Graben liegen.
    Ich blicke wieder auf, der andere Beamte stützt Mr. Kemplay am Ellbogen, Oldman hält Mrs. Kemplay die Seitentür auf und flüstert ihr etwas zu, was sie zum Blinzeln bringt.
    »Hier, bitte.« Ein schwergewichtiger Kriminalbeamter in einem guten Anzug reicht Abzüge des Schulphotos herum.
    Jemand stupst mich an. Schon wieder Gilman.
    »Sieht nicht besonders rosig aus, stimmt’s?«
    »Nein«, erwidere ich, während Clare Kemplay mich anlächelt.
    »Armes Ding. Was sie wohl durchmacht, hm?«
    »Ja«, sage ich und schaue auf die Uhr meines Vaters am kalten Handgelenk.
    »He, du solltest dich besser schleunigst vom Acker machen, meinst du nicht?«
    »Ja.«
     
    MI, Motorway One, südlich von Leeds nach Ossett.
    Ich trieb den Viva meines Vaters im Regen auf 100 km/h, im Radio rockte Shang-a-Lang von den Bay City Rollers.
    Zwölf Kilometer lang murmelte ich den Text wie ein Mantra vor mich hin:
    Mutter appelliert an Mitgefühl.
    Mutter der vermißten Clare Kemplay (10) appelliert an unser aller Mitgefühl.
    Angesichts zunehmender Besorgnis appellierte Mrs. Sandra Kemplay an unser aller Mitgefühl.
    Emotionale Appelle, wachsende Besorgnis.
    Zehn vor zehn hielt ich vor dem Haus meiner Mutter in der Wesley Street in Ossett und fragte mich, warum die Rollers nicht The Little Drummer Boy gecovert hatten, das hätten sie sicher gut hingekriegt, dachte ich.
     
    Am Telefon:
    »Okay, tut mir leid. Den Anfang noch mal, dann sind wir fertig. Also: Mrs. Sandra Kemplay appellierte heute morgen an unser aller Mitgefühl und flehte, ihre Tochter Clare möge gesund und unversehrt heimkehren, doch zugleich wuchs die Sorge um die vermißte Zehnjährige aus Morley.
    Neuer Absatz: Clare verschwand gestern am frühen Nachmittag auf dem Heimweg von der Schule; die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher