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1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
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beugte mich vor, um das Gesangbuch auf den Boden zu legen, dachte an Kathryn und daran, sie auf einen Drink einzuladen, wenn ich die nachmittägliche Pressekonferenz im Kasten hatte. Vielleicht würden wir danach in ihre Wohnung gehen. Meine Wohnung kam nicht in Frage, zumindest heute nicht. Dann dachte ich, die Toten können todsicher keine Gedanken lesen.
    Draußen jonglierte ich wieder mit einer Reihe von Händen und einer Zigarette und vergewisserte mich, daß die Wagen den Rückweg zum Haus meiner Mutter fanden.
    Ich stieg in den letzten Wagen ein, saß wieder stumm da, konnte kein Gesicht zuordnen und kannte keinen einzigen Namen. Als der Fahrer einen anderen Weg zurück nach Ossett einschlug, geriet ich einen Augenblick lang in Panik und war schon überzeugt, in die falsche beschissene Totengesellschaft geraten zu sein. Doch dann fuhren wir wieder Dewsbury Cutting hinauf, und die anderen Insassen lächelten mich plötzlich an, als hätten alle dasselbe gedacht.
    Wieder daheim, eins nach dem anderen:
    Im Büro anrufen.
    Nichts.
    Keine Neuigkeiten, also schlechte Neuigkeiten für die Kemplays und Clare und gute Neuigkeiten für mich.
    24 Stunden waren bald um, tick-tack.
    24 Stunden, das hieß, Clare war tot.
    Ich legte auf, schaute auf die Uhr meines Vaters und fragte mich, wie lange ich mich noch bei den Angehörigen und seinen Freunden aufhalten mußte.
    Vielleicht noch eine Stunde.
    Ich ging den Flur entlang, wurde endlich namentlich genannt, brachte noch mehr Tod ins Haus eines Toten.
    »Also, hat einer aus dem Süden ‘ne Panne in den Yorkshire Moors. Er geht die Straße lang zu einem Bauernhof und klopft an. Der alte Bauer macht auf, und der aus dem Süden fragt: ›Wissen Sie, wo ich die nächste Werkstatt finde ?‹ ›Nein‹, antwortet der alte Bauer. Fragt ihn der aus dem Süden dann, ob er den Weg in die Stadt weiß. Weiß er nicht, sagt der Bauer. ›Und wie steht’s mit dem nächsten Telefon?‹ Weiß er auch nicht, sagt der Bauer. Da sagt der aus dem Süden: ›Na, Sie wissen aber verdammt wenig, oder?‹ Daraufhin der alte Bauer: ›Kann schon sein, aber ich hab mich ja auch nicht verfahren.‹«
    Onkel Eric, stolz darauf, Yorkshire bisher nur einmal verlassen zu haben, um Deutsche zu töten, hielt hof. Onkel Eric, den ich mit zehn dabei beobachtet hatte, wie er einen Fuchs mit einem Spaten erschlug.
    Ich setzte mich auf die Lehne des leeren Sessels meines Vaters, dachte an Zimmer mit Meerblick in Brighton, an Mädchen aus dem Süden, die Anna hießen oder Sophie, und an ein fehlgeleitetes Gefühl kindlicher Treue, das nun zur Hälfte überflüssig war.
    »Bist sicher froh, wieder hier zu sein, hm?« fragte Tante Margaret blinzelnd und drückte mir wieder eine Tasse Tee in die Hand.
    Ich saß mitten in dem überfüllten Hinterzimmer, drückte mit der Zunge an meinem Gaumen herum, versuchte das festgeklebte Stück Weißbrot abzukriegen, war froh, etwas zu haben, um den Geschmack von warmem, salzigem Schinken wegzuspülen, haue am liebsten einen Whisky getrunken und dachte schon wieder an meinen Vater; ein Mann, der an seinem achtzehnten Geburtstag den Eid auf den König ablegte, nur weil sie ihn darum gebeten hatten.
    »Ja, schaut euch das mal an.«
    Ich war Meilen und Jahre entfernt, und plötzlich spürte ich, meine Stunde war gekommen, alle Augen ruhten auf mir.
    Meine Tante Madge wedelte mit einer Zeitung umher, als wolle sie eine Schmeißfliege erschlagen.
    Ich saß auf der Sessellehne, kam mir vor wie die Fliege.
    Ein paar meiner jüngeren Cousins hatten sich Süßigkeiten gekauft und die Zeitung mitgebracht, meine Zeitung.
    Meine Mutter nahm Tante Madge das Blatt ab und blätterte durch den Innenteil, bis sie auf die Geburts- und Todesanzeigen stieß.
    Verdammt, verdammt, verdammt.
    »Steht Dad drin?« fragte Susan.
    »Nein. Morgen wohl«, antwortete meine Mutter und sah mich mit ihren traurigen, traurigen Augen an.
    »Mrs. Sandra Kemplay appellierte heute morgen flehend darum, ihre Tochter möge gesund heimkehren.« Jetzt hatte meine Tante Edie aus Altrincham die Zeitung.
    Verdammte Appelle.
    » Von Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland. Na, Donnerwetter«, las Tante Margaret über Tante Edies Schultern hinweg.
    Alle im Zimmer versicherten mir reihum, wie stolz mein Vater auf mich gewesen wäre und daß es doch eine Schande sei, daß er diesen großen Tag, meinen großen Tag nicht mehr habe erleben dürfen.
    »Ich hab all das Zeugs gelesen, das du über diesen komischen
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