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1739 - Der Tabubrecher

Titel: 1739 - Der Tabubrecher
Autoren: Unbekannt
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gestellt, weil er sich nicht erklären konnte, weswegen Quidor ausgerechnet ihn auserwählt hatte, auch wenn er nach einer langen Reihe von geplanten Vermählungen und Zeugungen der erwartete Anwärter gewesen war.
    Pi-Poul Thean konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, als sie ihn abgeholt hatten, um ihn auf seine zukünftige Rolle vorzubereiten.
    Es war der größte Schock seines Lebens gewesen. Er hatte im Garten, hinter dem Haus Butchan gespielt, wie es die meisten fünfjährigen Raunach auf Dantach taten. Pi-Poul wurde unsanft aus dem Spiel gerissen; kräftige Hände packten ihn und schleiften ihn in den Audienzraum, wo er von seinem Vater erwartet wurde.
    „Sie werden dich mitnehmen zum Turm der Gerechten, mein Sohn, und dich dort ausbilden. Du sollst nach deiner zweiten Reife die Prüfung des Quidor ablegen, um Thean zu werden."
    „Das verstehe ich nicht", sagte Pi-Poul. „Warum muß ich hier weg?
    Warum soll ich Thean werden, was immer das auch sein mag?"
    „So ist die Bestimmung", sagte sein Vater ungeduldig. „Pi-Poul, stell keine Fragen. Du bist der Erwählte der Herrscherlinie von Dantach."
    „Aber ich will nicht!" wehrte sich das Kind verzweifelt. Es begriff nur zum Teil, was mit ihm da geschah, doch das war erschreckend genug.
    „Ich will zu meinem Spiel zurück!"
    „Ich zweifle nicht daran, daß du nicht willst", sagte sein Vater verächtlich. „Aber du bist mein einziger Sohn, und die Bestimmung liegt auf dir. Obwohl ich daran zweifle, daß du diese Aufgabe jemals wirst erfüllen können. Aber wir gehören nun einmal dem ältesten Adel der Raunach an und haben unsere Verpflichtung zu erfüllen."
    „Wo ist meine Mutter?" plärrte das Kind, als es wieder die harten Hände der beiden Männer um seine dünnen Arme spürte. „Laßt mich los!"
    „Geht jetzt", ordnete sein Vater nur an.
    Der kleine Junge schrie lauter, während die Männer ihn mit sich nahmen, fortbrachten von seinem Zuhause. Sie schoben ihn in einen Gleiter, dessen Sichtfenster verdunkelt waren. Den ganzen Flug über sprachen sie kein Wort mit dem verängstigten Jungen.
    Schließlich landeten sie, es war schon später Nachmittag, und Pi-Poul war müde und hungrig. Aber die Männer schienen sich nicht für seine Klagen zu interessieren. Weil er Angst vor ihnen hatte, quengelte er nicht weiter, sondern kletterte gehorsam aus dem Gleiter.
    Wohin war er gebracht worden?
    Waren sie so lange unterwegs gewesen, daß die Sonne schon untergegangen war?
    Zum erstenmal sprach einer der beiden unheimlichen Männer. „Dort hinein!"
    Pi-Poul folgte dem Wink seiner ausgestreckten, knöchernen Hand und verharrte staunend. Er hatte es anfangs für eine Mauer gehalten, doch es war viel größer. So hoch, daß er, selbst wenn er den Kopf in den Nacken legte, kein Ende erkennen konnte.
    Ein riesiger schwarzer Turm.
    „Der Turm der Gerechtigkeit", erklärte der zweite Mann dem Kind.
    „Seine sechs Ecken symbolisieren die sechs Prinzipien der Gerechtigkeit -Aufrichtigkeit, Reinheit, Güte, Treue, Pflicht und Tabubewahrung. Die Mauern sind absolut glatt und eben, damit alles Böse an ihm abgleitet.
    Nichts kann unerwünscht von außen hineindringen, nichts kann unbeabsichtigt von drinnen nach draußen, was nicht für die Welt bestimmt ist. Dies wird nun deine Heimat für die nächsten Jahre sein, Pi-Poul. Du wirst weise und strenge Lehrer haben, die dir alles beibringen, was du wissen mußt."
    Pi-Poul begann wieder zu zittern, aber er war viel zu erschöpft, um sich gegen die Männer zu wehren. Er ließ sich von ihnen durch eine kleine schmale Tür in das Innere des Turms führen.
     
    *
     
    „Du mußt die achthundertsiebenundneunzig Stufen der Gerechtigkeit ersteigen, und das in dieser Nacht", sagte drinnen der ältere der beiden Männer. „Es führt kein Aufzug hinauf. Dies ist deine erste Lektion: Du kannst nur erreichen, was du mit Körper und Verstand bewältigst. Alles andere ist Lug und Trug und dient nicht der Gerechtigkeit."
    „Aber ich bin doch erst fünf Jahre alt", wagte Pi-Poul einen leisen Protest. „Und die Stufen sind alle so hoch..."
    „Es ist deine Bestimmung", unterbrach ihn der Jüngere hart. „Solltest du bis Sonnenaufgang nicht oben sein, wird große Schande über deine Familie kommen, und du wirst sehr hart bestraft werden. Geh nun!" Er schubste Pi-Poul auf die Stufen zu.
    Am ersten Absatz zögerte der Junge noch einmal und drehte sich um.
    „Kommt ihr denn nicht mit?" fragte er.
    „Uns ist es nicht
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