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168 - Das fremde Leben

168 - Das fremde Leben

Titel: 168 - Das fremde Leben
Autoren: Thomas Ziebula
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eine blasse Erinnerung? Seine Tochter vielleicht, ja – sie war mehr als eine blasse Erinnerung. Annie lebte womöglich noch. Irgendwo in der Zukunft auf dem dritten Planeten dieses Sonnensystems. Als fast neunzigjährige Greisin…
    ***
    Leichen trieben über den Kuppeln und zwischen den Türmen.
    Manche ohne Schädel, einige aufgeschlitzt, viele verstümmelt.
    Hundert, hundertzwanzig Längen über der Stadt stand eine Wolke aus abgetrennten Gliedern, Gewebsfetzen, Eingeweiden und Blut. Langsam breitete sie sich zur Meeresoberfläche hin aus. Der Geschmack von Blut lag im Wasser. Es konnte also noch nicht lange her sein.
    Nach und nach tauchten Gilam'eshs Krieger wieder aus den aufgebrochenen Toren und zerstörten Turmluken der kleinen Ozeanstadt hervor. Ein Schwarmführer nach dem anderen schwamm zum Dickzahn-Wulroch des Kriegsmeisters und machte seine Meldung. Die Berichte glichen einander fast aufs Wort: keine Überlebenden, keine Reitfische, kaum technisches Gerät, kaum tote Gebärer, die jünger als achtzig Umläufe waren.
    Schon die vierte entvölkerte Südmeerstadt der Ikairydree; die vierte, die Gilam'esh mit eigenen Augen sehen musste. Die Westbarbaren töteten die meisten Bewohner, raubten die Stadtfische und die Gerätschaften – so weit sie damit umgehen konnten –, nahmen die jungen Mütter gefangen und zogen weiter. Meist verschleppten sie noch ein oder zwei Dutzend Halbwüchsige; als Proviant. Eine ganze Stadt ausgelöscht; fast fünfhundert Ikairydree.
    »Sie müssen kurz vor Lichtbeginn gekommen sein«, sagte Ramyd'sam, Gilam'eshs Schwarmmeister. »Einige Tote sind noch warm. Die Muy'laals haben die Witterung aufgenommen.«
    »Wie viele?«
    »Schwer zu sagen, Kriegsmeister. Mindestens zweihundert, höchstens vierhundert.« Ramyd'sam war ungewöhnlich klein und zierlich für einen Ditrydree. Die Spitzen seines meist hellblauen Scheitelkamms schimmerten wie Silber. Auch seine Flossen, Schwimmhäute und die Schuppen an den Innenseiten von Armen und Beinen glänzten silbrig im Lichteinfall.
    Gilam'esh hatte gehört, dass der Großerzeuger seines Schwarmmeisters ein Ikairydree gewesen war.
    »Der Dritte Schwarm bleibt hier und bestattet die Toten«, sagte Gilam'esh. »Lass den Kriegern die zehn schnellsten Thurainas zurück, damit sie rasch nachkommen können, wenn sie fertig sind.«
    Ramyd'sam gab die Anweisung des Kriegsmeisters an die zwölf Schwarmführer weiter. Die kehrten zu ihren Schwärmen zurück, und kurz darauf tauchten sechzig Ditrydree in das Ozeanstädtchen hinab oder schwammen zu den Toten, die über oder zwischen seinen Kuppeln und Türmen trieben.
    Die Völker der Ikairydree und der Ditrydree legten größten Wert darauf, ihre Toten in Würde zu bestatten. Für Extremfälle wie diesen galt ein Minimalritus: Um die Toten vor hungrigen Meeresbewohnern zu bewahren, würde man sie in die Zentralkuppel ihrer Stadt schaffen und dann mit ein paar Gesängen auf den Weg zu den Festgelagen der Schöpfer schicken. Die vier Zugänge zur Zentralkuppel würde man hinterher mit Trümmern verschließen.
    Umgekehrt hätten die Ikairydree vielleicht schöner gesungen, sonst jedoch genau das Gleiche getan, wäre eine Ditrydree-Stadt von Westbarbaren heimgesucht worden. Die Chroniken der Geschichtsmeister wussten allerdings von keinem einzigen derartigen Fall zu berichten.
    Gilam'esh gab das Zeichen zum Aufbruch. Die Reitfische von elf seiner zwölf Schwärme formierten sich zu der üblichen Keilformation. Ein Schwarm bestand üblicherweise aus zehn Thurainas mit je sechs Kriegern. Normalerweise schwammen sechzig Reitfische im linken Schenkel des Keils und sechzig im rechten. Da Gilam'esh seinen dritten Schwarm für die Bestattung abkommandiert hatte, brach er nun mit nur fünfzig Thurainas an der rechten Flanke auf. Sein Wulroch übernahm die Spitze, knapp hinter ihm steuerte sein Schwarmmeister das zweite Tier im Verband, das kein Thuraina war: Ramyd'sam, sein Berater, dessen Diener und der Tiermeister benutzten einen Iqual'schil. Ein bionetisch erzeugter Quallensymbiont, der auf der Oberseite des Schildpanzers eine Art Cockpit ausbildete.
    Gilam'esh schloss die Kuppelmembran über sich und seinen Begleitern. Zu seiner Linken saß Kazar'bal, sein Lehrer. Nicht erst seit diesem unseligen Krieg diente der über vierhundert Umläufe alte Ditrydree dem so viel Jüngeren als Berater.
    An Gilam'eshs rechter Seite saß Manil'bud, eine Tochter des Hochrats Ardi'bud. Ihre Schuppen waren von einem satten
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