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161 - Der Kristallschlüssel

161 - Der Kristallschlüssel

Titel: 161 - Der Kristallschlüssel
Autoren: Susan Schwartz
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freizügig kleideten, wohl als Ausgleich für die Thermo­Klamotten, die sie draußen tragen mussten. Selbst im Hochsommer stiegen die Temperaturen nicht über zwanzig Grad, und des Nachts fiel die Quecksilbersäule ganzjährig unter den Gefrierpunkt.
    Die Waldleute dagegen trugen Tag und Nacht kaum etwas am Leib. Matt vermutete, dass dies eine evolutionäre Anpassung war, eine natürliche Kälteresistenz. Durch den Jahrhunderte langen Kontakt mit dem Sekret der Marskäfer hatten sie sich sehr viel mehr verändert als die Städter und ein Zusammenleben mit der Natur erlangt, das fast mystische Formen annahm. Das erklärte wohl auch die Spannungen zwischen diesen beiden großen Volksgruppen des Mars.
    »Ja, danke, ich fühle mich gut.« Er trank den Becher leer und stellte ihn ab.
    »Wieder dieser Traum?«
    »So ähnlich. Und gleich dreimal hintereinander… jedes Mal glaubte ich erwacht zu sein…«
    »Das ist der furchtbarste Albtraum«, sagte sie. Hörte er da etwa eine Spur Mitgefühl?
    »Es tut mir wirklich Leid«, wiederholte er entschuldigend. »Ich wünsche mir selbst nichts mehr, als dass es endlich aufhört.«
    Chandra nahm den Becher und verschwand wieder, kam jedoch schon nach einer halben Minute zurück, diesmal mit zwei Tassen. Kein Kaffee, aber der Inhalt war trotzdem schwarz, stark und eigenartig süß.
    Knochenwärmer
    nannte die junge weißblonde Marsianerin das Gebräu, wobei sie nicht verriet, woraus es bestand. Sie holte sich einen Stuhl an sein Bett und schlürfte ein wenig von dem heißen Getränk, bevor sie sagte: »Sie müssen sich endlich selbst vergeben, Maddrax. Vorher wird es wohl nicht aufhören.«
    »Das sagen Sie so leicht«, brummte er. Er atmete den Dampf ein und nippte vorsichtig. Seine Gesichtszüge erhellten sich kurzzeitig. »Aiko… war ein guter, langjähriger Freund, und jetzt habe ich ihn zum dritten Mal verloren.«
    »Dreimal?«, hakte sie nach.
    Matt nickte. »Das erste Mal kurz vor dem Untergang der Erde, als sein Gehirn irreparabel geschädigt und durch ein bionisches ersetzt wurde. Er verlor seine Gefühle und handelte nur noch nach logischen, rein sachlichen Gesichtspunkten. Er führte eigenmächtig eine wichtige Mission aus, die er nicht überlebt haben kann. Das zweite Mal dann auf der PHOBOS, als sein Gedächtnisspeicher aus Naokis Kristall in das Schiffssystem geriet. Und hier auf dem Mars das dritte Mal…« Er sprach nicht weiter.
    Etwa zwei irdische Monate waren vergangen, seit man auf Anordnung der Präsidentin Cansu Alison das in einen Kristall gespeicherte Bewusstsein Aikos ein weiteres Mal erweckt hatte. Um den bedauernswerten Freund in jene spinnenartige, mit tödlichen Waffen ausgestattete Baumaschine zu pflanzen und zum Attentäter zu programmieren, der Matt töten sollte.
    Das labile virtuelle Bewusstsein hatte auch diese zweite Erweckung nicht verkraftet, war Amok gelaufen und hatte von Utopia Richtung Elysium eine breite Schneise von Tod und Vernichtung gezogen.
    Begreiflicherweise war unter der Bevölkerung große Unruhe ausgebrochen, was die Präsidentin zum Rücktritt gezwungen hatte. Eine Ungeheuerlichkeit, wie Chandra seitdem nicht nur einmal bemerkt hatte.
    Cansu Alison Tsuyoshi sei eine äußerst fähige Politikerin gewesen.
    »Aber offensichtlich mit einer extremen Situation hoffnungslos überfordert«, hatte Matt erwidert. »Sie hat mein Todesurteil ausgesprochen – und die Wiedererweckung Aikos gebilligt.«
    »Es war nicht damit zu rechnen, dass unsere friedliche Kultur so abrupt auf die Probe gestellt werden würde«, hatte Chandra versetzt. Und sie hatte das mit einem bitteren Vorwurf gesagt, den Matt ihr nicht verdenken konnte.
    Es stimmte schon, seine unvorbereitete Ankunft hatte die bisher geschlossene marsianische Gesellschaft völlig durcheinander gebracht und ihre schlechtesten Seiten geweckt. Aber auch wenn Matt Verständnis hatte, so zog er sich diesen Schuh nicht an. Denn wenn die Gesellschaft wirklich so perfekt war, wie die Marsianer ihm weismachen wollten, wieso konnte sie dann so schnell zusammenbrechen und zu solchen Gewalttaten fähig sein, zu derartigen Intrigen, die Hunderte Menschenleben kosteten?
    Das bedeutete doch nur, dass die Politik bisher nur aufgrund der Abgeschiedenheit und dem Fehlen von Feindbildern funktioniert hatte, dass aber unter der schönen, glatten Oberfläche bereits ein Vulkan des Widerstands brodelte, der nur auf den zündenden Funken zum Ausbruch wartete. Die Aversion gegen die Waldleute, die schon
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