1306 - Hexenbalg
ihre Reaktionen achten. Natürlich kann man es keinem Menschen vom Gesicht ablesen, ob er einen anderen getötet hat oder nicht, aber es gab schon bestimmte Verhaltensmuster, auf die man sich relativ gut verlassen konnte.
Den Mörder zieht es wieder hin zu seinem Opfer!
Diesen Satz kannte ich. Er musste nicht überall zutreffen, aber ich wollte ihn auch nicht einfach ignorieren. Es war besser, hier zu stehen, als irgendwo zu sitzen und sich Gedanken zu machen.
Ich war kein Fachmann für die Bewohner von Fischen und Umgebung, aber die Trauergäste gehörten zu den Menschen, die hier lebten. Man sah es ihnen irgendwie an. Ihr Verhalten, ihr Outfit, das Entsetzen auf ihren Gesichtern, das gehörte alles dazu. Auch wenn Tage nach der Tat vergangen waren, hatten sie noch immer mit dieser grausamen Tat zu kämpfen und würden sie so leicht nicht vergessen.
Die meisten Männer trugen Hüte. Viele davon gehörten zur Tracht. Die Gäste waren in Wintermäntel eingepackt.
Auch Jane Collins blieb nicht mehr bei dem Kollegen. Sie drängte sich an zwei älteren Frauen vorbei, die je eine gelbe Rose in den Händen trugen, und stellte sich neben mich.
»Was entdeckt, John?«
»Nein, noch nicht.«
Jane hob die Schultern. »Ich auch nicht. Ich könnte dir nicht sagen, wer von diesen Leuten hier der Mörder oder die Mörderin ist. Da bin ich ehrlich.«
Ich runzelte die Stirn, denn ich kannte Jane. »Etwas hast du doch in der Hinterhand, denn grundlos hättest du diesen Satz bestimmt nicht so gesagt.«
»Gut geraten.«
Sie lächelte dünn. »So etwas erkenne ich sofort.«
»Und was hast du erkannt?«
»Noch nichts«, flüsterte sie, ohne mich dabei anzuschauen. »Aber ich weiß trotzdem, dass der Mörder sich hier unter den Trauergästen befindet.«
»Ach. Und woher?«
»Der Geist der Mutter hat sich wieder bei mir gemeldet…«
***
Ich wollte es zuerst nicht glauben und deutete deshalb ein Kopf schütteln an. Dann aber fiel mir der ernste Gesichtsausdruck der Detektivin auf. Da wusste ich, dass sie keinen Bluff gestartet hatte.
»Hast du gehört, John?«
»Klar.«
»Der Mörder ist hier.«
»Hat dir die Stimme das gesagt?«
Jane nickte. »Die Stimme heißt Antonia. Sie war aufgeregt, das habe ich heraushören können.«
»Wegen des Mörders?«
»Nicht nur. Auch wegen ihrer Tochter, die ihr entrissen wurde. Der Mörder weiß alles. Er hat sie sich geholt, verstehst du?«
»Das Baby?«
»Ja. Den Balg. Den Hexenbalg oder wie auch immer. Antonia hat sich da nicht näher ausgelassen, aber ich weiß, dass sie sich mit einem Wesen eingelassen hat, dessen Kräfte auf das Baby übergegangen sind. Antonia selbst war damals noch zu jung, als es passierte. Sie hat sich nicht dagegen wehren können, aber die Schuld bleibt bei ihr bestehen, und deshalb kann sie keine Ruhe finden.«
Ich nickte vor mich hin. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, sind also der Mörder und dieses Kind unter den Trauergästen. Wir müssen beide nur finden.«
»Das habe ich gemeint.«
Ich warf wieder einen Blick über die Köpfe hinweg oder an ihnen vorbei. »Das wird nicht einfach sein«, murmelte ich. »Freiwillig gibt er sich bestimmt nicht zu erkennen.«
»Das ist klar. Dann müssen wir ihn locken.«
»Du denkst an das Kreuz?«
»Woran sonst?«
Die Idee war nicht schlecht, aber in der Praxis nicht gut umzusetzen. Ich überlegte, wie ich es anstellen sollte und wechselte dabei meinen Platz so gut es möglich war. Jane blieb noch zurück. Ich hoffte, dass sie wieder Kontakt bekam und mir unter Umständen mehr erzählen konnte.
Ich blieb in der Nähe der Mauer, aber der nächste Platz lag zum Grab hin günstiger. Außerdem fand ich einen fest im Boden sitzenden Stein, auf den ich mich stellen konnte.
Meine Sicht war zwar nicht ideal, aber besser geworden. Ich schaute auf den Sarg, der noch nicht in die Erde gelassen worden war. Ich sah den Pfarrer dahinter, flankiert von zwei Messdienern, die ziemlich verloren in die Gegend schauten.
Die Vereine hatten Abordnungen geschickt. Sie standen ausgerichtet wie beim Militär. Nichts bewegte sich in den Gesichtern.
Der Stoff der Vereinsfahnen hing schlaff herunter, denn von den hohen Bergen wehte so gut wie kein Windhauch ins Tal.
Mir kam die Stille noch intensiver vor, die dann von der Stimme des Pfarrers unterbrochen wurde. Der Geistliche war ein großer Mann mit breiten Schultern und besaß eine entsprechende Stimme.
Sie hallte in die Stille hinein, und die ersten Worte klangen
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