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13 - Im Schatten des Grossherrn 02 - Durchs wilde Kurdistan

13 - Im Schatten des Grossherrn 02 - Durchs wilde Kurdistan

Titel: 13 - Im Schatten des Grossherrn 02 - Durchs wilde Kurdistan
Autoren: Karl May
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verfolgt, als ich eine Gestalt rechts von her Höhe herabsteigen sah. Es war die alte Marah Durimeh. Auch sie hatte mich erkannt; sie blieb stehen und winkte mir. Als sie sah, daß ich ihrem Wink Folge leistete, drehte sie sich um und stieg mit langsamen Schritten wieder den Berg hinan, wo sie hinter einem Gesträuch verschwand. Dort erwartete sie mich.
    „Der Friede Gottes sei mit dir, mein Sohn!“ begrüßte sie mich. „Verzeihe mir, daß ich dich zu mir heraufsteigen ließ. Meine Seele hat dich lieb, und im Hause des Melek kann ich nicht allein mit dir sein; darum rief ich dich zu mir. Hast du ein wenig Zeit für mich?“
    „So viel du willst, meine gute Mutter.“
    „So komm!“
    Sie nahm mich bei der Hand, wie es eine Mutter mit ihrem Kind tut, und führte mich noch einige hundert Schritte weiter, bis wir einen moosbewachsenen Fleck erreichten, von dem aus man die ganze Gegend überblicken konnte, ohne selbst bemerkt zu werden. Sie setzte sich nieder.
    „Komm, nimm an meiner Seite Platz!“
    Ich folgte ihrem Gebot. Sie ließ den weiten Mantel fallen, und nun saß sie neben mir so greis, so ehrwürdig, so Ehrfurcht gebietend, wie eine Gestalt aus der Zeit der Propheten Israels.
    „Herr“, begann sie, „blicke auf, dahin zwischen Süd und Ost. Diese Sonne bringt Frühling und Herbst, bringt Sommer und Winter; ihre Jahre sind mehr als hundert Male über mein Haupt dahingegangen. Siehe dieses Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters, sondern das Weiß des Todes. Ich sagte dir bereits in Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahrheit gesprochen; ich bin ein – Geist, der Ruh 'i kulyan.“
    Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl, wie wirklich aus dem Grab heraus; aber sie vibrierte doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und die Augen, die auf das Gestirn des Tages gerichtet waren, zeigten einen feuchten Glanz.
    „Ich habe viel gehört und viel gesehen“, fuhr sie fort. „Ich sah den Hohen fallen und Niederen emporsteigen; ich sah den Bösen triumphieren und den Guten zu Schanden werden; ich sah den Glücklichen weinen und den Unglücklichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angst, und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in seinen Adern. Ich weinte und lachte mit; ich stieg und sank mit – dann kam die Zeit, in der ich denken lernte. Da fand ich, daß ein größerer Gott das All regiert und daß ein lieber Vater alle bei der Hand hält, den Reichen und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden. Aber viele sind abgefallen von ihm; sie lachen über ihn. Und noch andere nennen sich zwar seine Kinder, aber sie sind dennoch die Kinder dessen, der in der Dschehennah wohnt. Darum geht ein großes Leid hin über die Erde und über die Menschen, die sich nicht von Gott strafen lassen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, der der Vater eines besseren Geschlechtes werden kann.“
    Sie machte eine neue Pause. Ihre Worte, der Ton ihrer Stimme, dieses tote und doch so sprechende Auge, ihre langsamen, müden und doch so bezeichnenden Gesten machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann die geistige Herrschaft zu begreifen, die dieses Weib auf die intellektuell armen Bewohner dieses Landes ausübte. Sie fuhr fort:
    „Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen; das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, sehr reich an irdischen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott, den sie verworfen hatten. Mein Leben starb, aber dieser Gott starb nicht mit. Er berief mich, seine Dienerin zu sein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, nicht mit Worten, die man verlachen würde, sondern mit Taten, die segnend auf jene fallen, die der Barmherzigkeit des Vaters bedürftig sind. Die alte Marah Durimeh und der Ruh 'i kulyan sind dir ein Rätsel gewesen; sind sie es dir auch jetzt noch, mein Sohn?“
    Ich konnte nicht anders, ich mußte ihre dürre Knochenhand erfassen und an meine Lippen drücken.
    „Ich verstehe dich!“
    „Ich wußte es, daß es bei dir nur dieser Worte bedurfte; denn auch du ringst mit dem Leben, ringst mit den Menschen, außer dir und mit dem Menschen in dir selbst.“
    Ich schaute rasch auf zu ihr. War sie mit der Gabe des Sehens begnadet? Wie kam es, daß ihr Auge so tief drang und so richtig blickte? Ich antwortete nicht, und sie fuhr nach einer Weile fragend fort:
    „Du bist ein
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