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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn
Autoren: Ingo Behring
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unheimlich. Eigentlich hat ja jeder von uns einen kleineren oder größeren Knall. Aber wenn die mentale Fehlverdrahtung so heftig ist, dass ein Arzt eine Ordnungsverfügung veranlasst (im Volksmund: «Zwangseinweisung»), ist es schon sehr weit gekommen. Auslöser für eine solche Verfügung ist oft eine geäußerte Selbsttötungsabsicht. Diese Menschen sind vom Leben gebeutelt, durch einen Verlust, Schulden oder ein Beziehungsdrama. Wenn wir dann bei ihnen erscheinen, sind sie einfach nur fertig, geben aber zumeist Ruhe und lassen sich helfen. Sie sind weitgehend berechenbar und machen kaum Probleme. Schließlich setzen auch sie ihre Hoffnungen auf die erwartete Hilfe im Krankenhaus.
    Schwieriger wird es, wenn jemand eingewiesen wird, weil er in seinem Wahnsinn der Realität entrückt ist. Die Person lebt in einer parallelen Welt, die eher weniger als mehr Gemeinsamkeiten mit jener hat, die wir als «normal» bezeichnen. Die Ordnungsverfügung ist dann allerdings nicht dem bloßen Umstand zu verdanken, dass der Mensch, über den eine solche erlassen wird, nicht «unter uns» leben kann. Eine Ordnungsverfügung kann nur erwirkt werden, wenn der Patient «eine Gefahr für sich oder eine andere Person» darstellt. Da sie das Grundrecht der Freiheit bricht, muss sie von einem Richter bestätigt werden (in akuten Fällen im Nachhinein), um nicht rechtswidrig zu sein. Als rechtfertigender Grund gilt zum Beispiel, dass jemand in seinem Wahn auf Verwandte oder fremde Menschen losgeht, randaliert oder seine Wohnung anzündet. Diese Menschen sind unberechenbar. Da ihre Wahrnehmung eine andere ist als unsere, sehen sie auch in anderen Dingen eine Bedrohung und können daher aus uns unerfindlichen Ursachen von jetzt auf gleich aggressiv werden. Eben war der Sani noch der gute Mensch, der dem eigenen Sohn ähnlich sieht, plötzlich wird er Teil einer Verschwörung mit dem Ziel, den Patienten aus dem Weg zu schaffen, vergiften zu wollen, einzusperren …
    Personen, die so reagieren können, fahre ich sehr ungern, weil ich nie weiß, ob ich mich im nächsten Moment einer Attacke erwehren muss oder bespuckt werde. Einmal wurde eine Heckscheibe aus dem Rettungswagen getreten, ein anderes Mal eine Beule in die Heckklappe geschlagen. Ich habe von hinten an der Kehle eines «Durchgedrehten» gehangen, um einen Angriff auf Angehörige abzuwenden. Glücklicherweise fährt bei kritischen Fällen immer ein Polizist im Patientenraum mit, der von Berufs wegen in Selbstverteidigung und dem Brechen von Gegenwehr geschult ist.
    Es gibt allerdings auch Patienten, die nicht ganz normal erscheinen, die dabei aber nicht unbedingt gefährlich sind. So hören wir oft von Angehörigen uneinsichtiger Patienten, die trotz einer Erkrankung nicht in die Klinik wollen, oder von Nachbarn eines Menschen, der sich und seine Wohnung verwahrlosen lässt: «Das ist doch unzumutbar! Können Sie den nicht zwangseinweisen?» Aber so einfach geht das nicht. Eine stinkende und zugemüllte Wohnung reicht nicht aus. Auch ein Mensch, der gesundheitliche Probleme hat, aber trotzdem klar im Kopf ist, kann nicht einfach gegen seinen Willen in ein Krankenhaus verfrachtet werden. In Deutschland hat jeder das Recht, zu verwahrlosen oder seine Gesundheit zu schädigen. Sonst könnten wir ja jeden Raucher problemlos einsacken.
    Einen Mann, bei dem der Grat zur Ordnungsverfügung noch nicht überschritten war, trafen wir in einer sehr eigenen Wahrnehmungswelt an. An und für sich wären viele Männer ja froh, wenn sie von ihrer Frau behaupten könnten, sie würde nicht so viel sprechen. Der Mann aber, der um halb zwei nachts die Feuerwehr anrief, war nicht ganz so begeistert davon. Im Gegenteil. «Meine Frau sitzt hier neben mir auf dem Sofa, schaut durch mich hindurch und spricht nicht mit mir», sorgte er sich. Der Disponent der Leitstelle schloss auf eine Erkrankung in Richtung Schlaganfall der Frau und schickte uns mit einem entsprechenden Stichwort auf den Piepsern los: «Kolpingstraße 16 . Neurolog. Notfall bei Schöller.» Steffen und ich quälten uns aus dem Ruheraum und liefen zum Rettungswagen, nicht ahnend, dass dieser Einsatz alles andere als gewöhnlich verlaufen würde.
    Wir fuhren durch die verlassenen Straßen einer Reihenhaussiedlung und suchten zwischen Hecken und schlecht beleuchteten Windfängen nach der angegebenen Hausnummer. Deren Entdeckung ist gerade in den etwas «besseren Gegenden» manchmal nicht so einfach, da plakative Ziffern für uns zwar
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