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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn
Autoren: Ingo Behring
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    Nach der Schicht polierte ich eine Stunde mit verschiedenen Mitteln am Helm herum, bis er wie neu aussah. Sogar das Visier war nach entsprechend liebevoller Zuwendung wieder zu gebrauchen, wenn es auch durch die ätzende Wirkung des Rauchs dauerhaft angebräunt wie eine Sonnenblende und die vordere Kante leicht geschmolzen war.
    Ich hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Nämlich den des «unheimlichen Helmeputzers». Einige Kollegen fanden ihren Helm «über Nacht» so vor, als hätten sie ihn gerade aus der Kleiderkammer bekommen. Einer, der mir vorher versichert hatte, es sei ihm egal, wie sein Helm aussehe, drohte mir nach der ungefragten Reinigung sogar Prügel an. Der Zustand der knitterfreien Mütze war ihm wohl doch nicht so egal, als die «Beweise für seine Einsatzerfahrung» in Gestalt von Verschmutzungen weggeputzt waren. Ich hingegen bin der Meinung, dass man seine Erfahrung im und nicht auf dem Kopf tragen sollte.

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    Kapitel 27 Akuter Wahnsinn
    Steffen und ich kamen morgens von einem Rettungseinsatz zurück. Nachdem wir uns die vergangene Nacht mit Notfällen, die wieder einmal keine waren, herumgeschlagen hatten – eine heftige Erkältung, ein Zecher, der seinen Rausch auf einer Parkbank ausschlafen wollte –, hatten wir gerade einen Patienten mit einem Schlaganfall in die Neurologie eines Krankenhauses gebracht. Der erste richtige Einsatz in dieser Schicht.
    Jetzt standen wir in der Nähe einer Feuerwache an der Straßenkreuzung und warteten darauf, dass die Ampel uns die passende Farbe zeigte. Da fiel er uns auf: Ein junger Mann, etwa zwanzig, mit T-Shirt und Jeans bekleidet, stand auf einem Bein und wild mit den Armen fuchtelnd an der Ampel. Dabei erzählte er sich selbst etwas. Sehr angeregt.
    «Was ist das denn für ’ne Type? Hat der was genommen?», witzelte ich.
    «Der hat bestimmt eine lange Nacht gehabt», meinte Steffen.
    «Nö, nicht wirklich», konterte ich, «dafür steht der auf einem Bein zu gerade.»
    Wir schauten ihn uns eine Weile an. Als die Ampel auf Grün sprang, hüpfte der seltsame Kerl auf dem einen Bein gazellengleich über die Straße.
    «Der hat ja gar keine Schuhe an!», rief Steffen aus.
    «Die wurden ihm bestimmt geklaut, als er nach seiner Party im Park eingeschlafen war», vermutete ich.
    Wir amüsierten uns noch einen Moment, doch dann war der Hüpfer aus unserem Blickfeld entschwunden, und wir vergaßen ihn. Etwas «scheckig in der Birne zu sein» ist schließlich keine Straftat. Und mancherorts schon fast normal: Wenn man zum Beispiel im Hauptbahnhof einer beliebigen Großstadt einen Kaffee trinkt und dabei Leute beobachtet, ist das manchmal interessanter als Kino. Merkwürdige Outfits, lustige Frisuren und mit sich selbst ins Gespräch vertiefte Leute sind da gang und gäbe.
    Kaum auf unserer Wache am Krankenhaus eingetroffen, machten sich unsere Klingelkästchen bemerkbar. Die Adresse auf dem Display kam uns bekannt vor: «Schillerstraße. HP vor Pizzeria.»
    «Das ist bestimmt der Springer von eben», vermutete ich.
    Da wir in dieser Schicht schon mehrfach zum Besten gehalten worden waren, war Steffen so richtig gut drauf. Mit dem HP -Hinweis werden wir ja oft zu Betrunkenen geschickt, die uns dann den «sterbenden Schwan» vorspielen und uns als billiges Taxi missbrauchen wollen, um irgendwo im Warmen ihren Rausch auszuschlafen. Und so sagte er: «Ey, wenn das jetzt wirklich der Typ von eben ist, dann mache ich den wieder flott. Der fährt garantiert
nicht
mit. Schließlich konnte der gerade noch laufen. Der kann selbst zusehen, wie er in ein Bett kommt.»
    Mit Blaulicht fuhren wir zur Schillerstraße und wurden von vier Kollegen der nahe gelegenen Feuerwache auf dem Parkplatz vor der Pizzeria in Empfang genommen: «Wir gucken aus dem Fenster, und da liegt der Typ mitten in der Ausfahrt des Lokals. Irgendwie ist der ja gut drauf, aber etwas stimmt dennoch nicht.» Leicht ratlos stand das Quartett um den am Boden liegenden jungen Mann herum.
    Ja, es war tatsächlich der Gazellenspringer, weiterhin ohne Schuhe, dafür mit löchrigen Socken. Er hatte es sich auf seinem harten Platz einigermaßen bequem gemacht, zappelte säuglingsgleich mit den Beinen in der Luft und brabbelte lächelnd irgendetwas vor sich hin. Steffen war sichtlich am Rande seiner Geduld. Nach der letzten Nacht, in der wir ja fast nur für Mumpitz unterwegs waren, schien dieser Patient der Einsatzserie von Betrunkenen und Hypochondern die Krone aufzusetzen.
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