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105 - Das indische Tuch

105 - Das indische Tuch

Titel: 105 - Das indische Tuch
Autoren: Edgar Wallace
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sagte der Lord leise. »Dazu fürchten Sie sich viel zu sehr!«
    Tanner schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Doch, Sie fürchten sich. Vor mir fürchten sich alle.«
    »Aber mir können Sie keine Angst einjagen«, erwiderte Tanner freundlich. »Seien Sie jetzt vernünftig und geben Sie mir die Pistole. Warum wollen Sie eine so gefährliche Waffe bei sich tragen?«
    »Oh, damit läßt sich allerhand anfangen.«
    Tanner hörte einen Schreckensruf von der Treppe her. Er wandte sich nicht um, aber er wußte, daß Lady Lebanon dort stand.
    »Damit könnte ich zum Beispiel die Familie der Lebanons ein für allemal auslöschen.«
    »Aber Willie!«
    Plötzlich änderte sich das Benehmen des jungen Lords. Er wich zurück und verbarg die Waffe.
    »Was machst du da, du dummer Junge? Gib sofort die Pistole her!«
    »Nein«, entgegnete er mit weinerlicher Stimme, »ich habe schon immer so etwas haben wollen. Mehr als ein dutzendmal habe ich darum gebeten.«
    »Lege die Waffe dort auf den Tisch!«
    Einen Augenblick wandte Willie Tanner den Rücken zu, und in dieser Sekunde warf sich der Chefinspektor auf ihn. Totty stürzte in den Raum und half seinem Vorgesetzten, aber mit einer unglaublichen Kraftanstrengung gelang es dem Lord, sich frei zu machen und die Treppe hinaufzueilen. In diesem Moment erschien Gilder. Eine Sekunde zögerte Lebanon noch, dann drückte er ab. In dem engen Raum hallte der Schuß unheimlich wider. Die Pistole entglitt Willies Fingern, und er sank auf die Stufen nieder.
    Im nächsten Augenblick waren die drei Männer an seiner Seite und beugten sich über ihn, aber ein Blick sagte Tanner, daß Hilfe vergeblich war.
    Lady Lebanon stand mit erhobenem Kopf steif an ihrem Schreibtisch. Sie hatte das Gesicht abgewandt, aber den Kopf in den Nacken geworfen.
    »Nun, wie steht es?« fragte sie mit rauher Stimme.
    »Er ist tot«, entgegnete Tanner heiser.
    Sie antwortete nicht, aber ihre Hände krampften sich zusammen. Langsam ging sie zur Treppe.
    Als sie an dem Toten vorüberkam, würdigte sie ihn keines Blickes. Sie blieb nur einen Augenblick stehen und stützte sich an der Wand.
    »Zehn Jahrhunderte hindurch hat die Familie Lebanon bestanden, und nun ist keiner mehr übrig, um die Linie fortzusetzen«, sagte sie klagend.
    Die Anwesenden hörten schweigend zu.
    Mühsam stieg Lady Lebanon die letzten Stufen hinauf.
    26
    Chefinspektor Tanner berichtete dem Polizeipräsidenten über die Ereignisse in Marks Priory.
    »Zuerst hatte ich den Eindruck, daß es sich um einen gewöhnlichen Racheakt handelte, und ich hatte zwei, vielleicht auch drei Leute in Verdacht, zunächst natürlich Amersham. Er war in der Nähe des Tatortes, als Studd ermordet wurde, und ich hatte auch ein Motiv gefunden: Beide interessierten sich für dieselbe Frau, und Amersham war entsetzlich eifersüchtig. Er stand in schlechtem Ruf, und ich muß gestehen, daß ich mich täuschen ließ, als der junge Lord Lebanon nach Scotland Yard kam und mir erzählte, Amersham hätte eine junge Inderin erwürgt. Als ich dann nach Amershams Tod ein Telegramm aus Indien erhielt, ersah ich daraus alle Einzelheiten des Verbrechens.
    Lebanon war allem Anschein nach der Täter gewesen, damals aber schon für geisteskrank erklärt worden. Die indische Regierung war froh, daß er das Land schnell verließ, denn er hatte sich schon vorher merkwürdig benommen und bei der Jagd auf seine eigenen Treiber geschossen. Man beobachtete ihn gerade auf seinen Geisteszustand, als der Mord an dem Mädchen begangen wurde.
    Hätte ich Lord Lebanon im Verdacht gehabt, so wäre mir auch sofort klar gewesen, daß er nur einen anderen als Täter hinstellen wollte. Aber Dr. Amersham stand in so schlechtem Ruf, und seine Beziehungen zu Lady Lebanon waren so seltsam, daß ich ihn zuerst für den Schuldigen hielt und alle meine Nachforschungen darauf richtete, ihn zu entlarven. Das änderte sich natürlich, als sein Tod bekannt wurde.
    Amersham war ein Dieb und Erpresser; es war sein Glück, daß Lady Lebanon ihn während der Krankheit ihres Mannes zum Hausarzt und Vertrauten wählte. Der Familienarzt, der stets das Geheimnis gewahrt hatte, war gestorben, und sie hatte große Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden. Jeder verantwortungsvolle Arzt hätte den Fall sofort der Behörde gemeldet, und dann wäre vom Gericht aus eine Vormundschaftsverwaltung über das Vermögen eingesetzt worden.
    Amersham erschien in jeder Beziehung geeignet. Er war sehr klug, besaß auch genügend Kenntnisse
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