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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht
Autoren: Sergej Lukianenko
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Entscheidung.«
    Mit gläsernem Klirren entstand um Geser herum ein Kraftschild, gleichsam als habe er sich eine Tüte aus zerknittertem Zellophan übergestülpt. Noch nie hatte ich gesehen, dass ein Magier sich mit solchen Maßnahmen gegen das gewöhnliche Tosen der Naturgewalten schützte.
    Swetlana fuhr in flatterndem Kleid fort, das Schicksalsbuch zu zeichnen. Jegor rührte sich nicht, sondern stand da, als sei er an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Vielleicht nahm er bereits nichts mehr wahr. Was passiert mit einem Menschen, wenn er sein altes Schicksal verliert und das neue noch nicht erlangt hat?
    »Geser, du bereitest einen Taifun vor – im Vergleich dazu ist dieser Sturm überhaupt nichts!«, schrie ich.
    Der Wind erstickte bereits unsere Worte.
    »Das ist unvermeidlich«, erwiderte Geser. Er schien zu flüstern, doch jedes Wort klang völlig klar. »Das vollzieht sich bereits.«
    Das Schicksalsbuch wurde sogar in der Menschenwelt sichtbar. Natürlich hatte Swetlana es nicht im eigentlichen Sinne gezeichnet, sondern es aus den tiefsten Schichten des Zwielichts herausgezogen. Eine Kopie angefertigt, und jede Veränderung der Kopie würde sich im Original wiederfinden. Das Schicksalsbuch erschien als Modell, eine Nachbildung aus lodernden Feuerfäden, die unbeweglich in der Luft hingen. Regentropfen flammten auf, sobald sie auf das Buch fielen.
    Jetzt würde Swetlana anfangen, Jegors Schicksal zu ändern.
    Und später, Jahrzehnte später würde Jegor das Schicksal der Welt ändern.
    Wie immer zum Guten.
    Wie üblich erfolglos.
    Ich geriet ins Taumeln. Von einer Sekunde zur andern hatte sich der starke Wind völlig überraschend zu einem Orkan ausgewachsen. Um uns herum geschah etwas Unvorstellbares. Ich sah, wie die Autos auf der Straße anhielten, an den Straßenrand drängten – möglichst weit weg von den Bäumen. Völlig lautlos – das Heulen des Windes erstickte jeden Lärm – krachte eine riesige Reklamewand auf die Kreuzung. Spätheimkehrer rannten auf die Häuser zu, als hofften sie, die Mauern böten ihnen Schutz.
    Swetlana hielt inne. Der glühende Punkt leuchtete in ihrer Hand. »Anton!«
    Ich konnte ihre Stimme kaum hören.
    »Anton, was soll ich tun? Sag’s mir! Soll ich das tun, Anton?«
    Der Kreidekreis schützte sie, jedoch nicht vollständig: Beinahe hätte der Orkan ihr die Kleidung vom Leib gerissen; trotzdem erlaubte er ihr, das Gleichgewicht zu bewahren.
    Alles schien zu verschwinden. Ich sah sie an, sah die lodernde Kreide, die bereit war, ein fremdes Schicksal zu ändern. Swetlana wartete auf eine Antwort – nur hatte ich nichts zu sagen. Nichts, weil ich die Antwort selbst nicht kannte.
    Ich hob die Hand zum tosenden Himmel. Und sah die durchsichtigen Blumen der Kraft in meinen Händen.
    »Schaffst du es?«, fragte Sebulon mitleidig. »Der Sturm legt richtig los.«
    Seine Stimme war durch das Gedonner des Orkans ebenso klar zu hören wie die Stimme des Chefs.
    Geser seufzte.
    Ich öffnete die Hände, drehte sie zum Himmel – an dem keine Sterne mehr standen, wo nur das Geflacker von Wolken, Regengüssen und Blitzen geblieben war.
    Es war einer der einfachsten Zauber. Man kriegt ihn fast als Erstes beigebracht.
    Eine Remoralisation.
    Ohne jede Präzisierung.
    »Tu das nicht!«, schrie Geser. »Wag es ja nicht!«
    Mit einer einzigen Bewegung wechselte er den Standort, schirmte Swetlana und Jegor von mir ab. Als ob das den Zauber beeinträchtigen würde. Nein, nichts würde ihn jetzt noch aufhalten.
    Ein Lichtstrahl, unsichtbar für Menschen, schoss aus meinen Handtellern. Alle Körnchen, die ich unter ihnen gesammelt hatte, erbarmungslos und unerbittlich. Die purpurrote Flamme der Rosen, die hellen rosafarbenen Pfingstrosen, das Gelb der Astern, die weißen Kamillen, die nahezu schwarzen Orchideen.
    Sebulon lachte leise hinter mir.
    Swetlana stand mit der Kreide in der Hand über dem Schicksalsbuch.
    Jegor war vor ihr mit ausgebreiteten Armen erstarrt.
    Die Figuren auf dem Spielbrett. Die Kraft in meinen Händen. Noch nie hatte ich über so viel Kraft geboten, so unkontrollierte, am Rande überströmende Kraft, die sich über wen auch immer ergießen würde.
    Ich lächelte Swetlana an. Und hob ganz langsam die Hände mit dem aus ihnen herausschießenden Springbrunnen aus regenbogenfarbenem Licht an mein Gesicht.
    »Nein!«
    Der Schrei Sebulons durchdrang nicht nur den Orkan – er erstickte ihn. Ein Blitz zerschnitt den Himmel. Das Oberhaupt der Dunklen wollte sich auf mich
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