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0998 - Die Welt der verlorenen Kinder

0998 - Die Welt der verlorenen Kinder

Titel: 0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
Autoren: Jason Dark
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immer dann entstand, wenn der Wind die Zweige des hohen Baums bewegte, so daß die Nadeln gegeneinander schabten und sich auch die Lichter zuckend bewegten.
    Ich ging zwei Schritte zurück, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen.
    Kaum war ich wieder stehengeblieben, als ich die Liedzeile erneut hörte.
    Wieder von denselben Stimmen gesungen.
    »Christmas Day - Christmas Day ist Coming…«
    Das häßliche Kichern, das in meinen Ohren schrillte, war einfach nicht zu überhören. Für einen Moment schloß ich die Augen, und ich wartete darauf, daß die Stimmen verstummten. Das trat nicht ein. Sie veränderten sich nur. Sie wurden leiser, als würden sie sich von mir entfernen. Wenig später waren sie wieder lauter zu hören. Wie kleine Sänger, die den Baum umrundet hatten und jetzt wieder auf mich zukamen, um erneut in meiner Nähe zu singen.
    »Christmas Day is Coming…«
    Jetzt hatte ich mich etwas daran gewöhnt und ich nahm auch den besonderen Unterton in der Zeile wahr. Normalerweise singt ein Chor ein Weihnachtslied fröhlich, weil eine gewisse Erwartimg damit verbunden ist. Hier nicht. Diese Kinder sangen die Zeile schon böse, ja, richtig böse, als wären sie von Haß erfüllt.
    Wenn ich bisher noch gezweifelt hatte, hier richtig zu sein, so hatte ich nun eine andere Meinung bekommen. Hier ging tatsächlich etwas vor, das normal kaum zu erklären war. Unsichtbar umschwebte mich ein wahrer Geisterchor.
    Das war mehr als ungewöhnlich…
    Ich ging nicht weg. Ich erhielt auch keinen Besuch. Die Stimmen waren wohl nur von mir gehört worden. Nicht ein Passant hatte sich von der anderen Seite der Straße gelöst, um auf den Weihnachtsbaum zuzugehen.
    Waren sie noch da?
    Zu hören war nichts, aber ich wollte sie locken. Die Jacke hatte ich nicht geschlossen, und es war recht einfach für mich, das Kreuz hervorzuholen.
    Ich ließ es auf meiner offenen Hand liegen. Niemand beobachtete mich dabei, aber die Kinderstimmen waren wieder da.
    Nur sangen sie diesmal nicht.
    Sie kreischten. Sie schrien. Sie kippten beinahe akustisch über. Es war ein unbeschreibliches, böses und wildes Geräusch, das mir durch den Kopf schnitt und mich auf der Stelle festnagelte.
    Aber ich wußte auch, daß die Kinder Angst verspürten. Die Gegenwart des Kreuzes mußte sie stören, und ihre Stimmen lösten sich in schrillen Disharmonien auf, zuckten noch einmal wie eine laute Säge an meinen Ohren vorbei, dann waren sie weg.
    Ich stand noch immer vor diesem haushohen Weihnachtsbaum, dessen kalter Lichtschein auf mich niederfiel und für mich persönlich jegliche Wärme vermissen ließ.
    Das war wirklich der reine Wahnsinn. Mit einem derartigen Empfang hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Nur war ich viel gewohnt und hatte deshalb die Überraschung schnell überwunden, so daß ich mich wieder auf die eigentlichen Aufgaben konzentrieren konnte.
    Nachdem ich einen letzten Blick auf den Weihnachtsbaum geworfen hatte, setzte ich mich in Bewegung und schritt auf den Eingang des Gasthauses zu.
    Nein, nicht nur ich.
    Von der Seite her kam noch jemand. Eine Frau, die dunkle Jeans trug und einen hellblauen Anorak. Die Kapuze hatte sie wegen der Kälte über den Kopf gezogen. Die Kapuze war gefüttert, wie wahrscheinlich der ganze Anorak. Sie ging sehr schnell, zu schnell, und sie hätte mich beinahe überrannt. Erst im letzten Moment sah sie mich und blieb stehen.
    »Oh!« rief sie und prallte zurück, obwohl wir uns kaum berührt hatten.
    »Pardon«, sagte ich, »es war meine Schuld.«
    Die Frau hob die Hand und schob ihre Kapuze nach hinten. Braunblondes Haar kam im Licht des Tannenbaums zum Vorschein, was aber nicht die natürliche Farbe sein mußte.
    Ein Gesicht mit Haselnußaugen verzog sich zu einem Lächeln. Sommersprossen glänzten, ich sah Grübchen in den Wangen, eine kleine Nase und einen netten Mund. Die Frau schätzte ich auf Mitte bis Ende Zwanzig.
    »Habe ich Sie erschreckt, Miß?«
    »Das passiert, wenn man in Gedanken ist.« Sie räusperte sich, musterte mich dann und schüttelte den Kopf.
    »Was haben Sie?«
    »Nichts, was Sie persönlich angeht, Mister, aber mir scheint, daß Sie fremd in Paxton sind.«
    »Sieht man das?« fragte ich amüsiert.
    »Ja, schon, denn ich kenne hier jeden Menschen und jedes Tier, obwohl ich auch nicht mehr dazugehöre. Ich bin praktisch über Weihnachten auf Besuch hier.«
    »Finde ich nett, in einer so idyllischen Umgebung das Fest zu begehen.«
    »Nett?« Sie runzelte die Stirn.
    »Ja,
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