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0952 - Nacht über New Amsterdam

0952 - Nacht über New Amsterdam

Titel: 0952 - Nacht über New Amsterdam
Autoren: Simon Borner
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fürchte, wir haben einen Spaßvogel in der Leitung«, erklang Steve in Barrys Gehörgang.
    Als gewiefter Moderator wusste der zweiundfünfzigjährige Star der Radionacht, dass sein Publikum Steve nicht hören konnte. Und er wusste, dass er soeben vorgeführt worden war. Janice war nicht real. Der Grund für ihre Fistelstimme war, dass sich ein Mann hinter ihr verborgen hatte.
    »Oh, mal wieder ein Witzbold«, sagte Barry in geheuchelter Begeisterung ins Mikro. »Hör zu, Kumpel, hier sprechen wir über wichtige Themen, okay? Spar dir deinen Stuss für Jerry Springer auf.«
    Barry hatte die Hand schon gehoben um die falsche Janice aus der Leitung zu kicken, als sich der Typ abermals zu Wort meldete. Und was er sagte, ließ den so abgebrühten Moderator erschaudern.
    »Du wirst sterben, Champlain!«, zischte der Anrufer hasserfüllt. »Für deine Meinungsmache. Für deine Lügen. Du wirst sterben! Wir wissen, wo du bist.«
    Dann legte er auf - und Barry saß reglos da und lauschte der Stille in der Leitung.
    ***
    Morddrohungen waren in seinem Job keine Seltenheit. Scheiße, als er in den Achtzigern in der Branche angefangen hatte, kamen in schöner Regelmäßigkeit Pakete in den Sender, in denen tote und in Hakenkreuzflaggen gewickelte Ratten auf ihn gewartet hatten. Damals war nicht mehr passiert, und auch heute würde nicht mehr passieren.
    Warum also fühlte er sich, als rutsche ein Eisberg von titanicschen Ausmaßen gerade seinen Rücken hinab?
    Barry hatte nach »Janices« Anruf noch ein, zwei flapsige Sprüche gemacht und dann Musik eingelegt, die nun durch den Äther ging - ein Unding im Talk Radio, aber er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Der Anruf war ihm stärker an die Nieren gegangen, als er es zuzugeben bereit war.
    Irgendwas an dieser Drohung hatte realer geklungen als bei den anderen Spinnern.
    Irgendwas daran ängstigte ihn.
    Im nächsten Augenblick ging das Licht aus!
    Finsternis hüllte Barry ein. Verwirrt sah er sich um. Das Studio war etwa fünfzehn Quadratmeter groß und verfügte neben dem Fenster nach draußen und dem zur Technik auch noch über zwei Lampen - eine am Moderatorentisch, eine über dem Ausgang -, die Licht spendeten, doch beide hatten den Dienst quittiert. Ohne Vorwarnung.
    »Stromausfall?«, fragte Barry über internen Funk seinen Techniker. Wie bei Radiosendern dieser Größenordnung üblich, wurde alles, was den unmittelbaren Sendebetrieb anging, über eine externe, autarke Stromverbindung versorgt. Die Show musste - und würde - immer weitergehen.
    Als er sich zum Außenfenster umdrehte, sah er, dass New York nach wie vor leuchtete. Beschränkte sich der Fehler auf ihr Gebäude?
    »Steve? Sprich mit mir, Mann.«
    Es knackste im Kopfhörer des Headsets, das er sich angezogen hatte, um im Studio auf und ab gehen zu können. Dann: »Sorry, Bar. Ich verstehe es selbst nicht. Eigentlich müsste hier alles laufen, aber nach und nach sterben mir die Konsolen unter den Fingern weg. Eigenartig. Warte mal, ich versuche einen Neustart des Syste-«
    Steves Stimme brach ab, als hätte etwas - jemand? - die Verbindung durchtrennt.
    »Steve?« Barry sah in die Richtung, in der er das andere Fenster wusste, konnte in der Schwärze aber nichts ausmachen. Überhaupt nichts. »Steve, was ist los?«
    Nur Stille. Nichts drang an seine Ohren, außer dem leisen Hintergrundgedudel der Musik, die nach wie vor über den Sender ging. Barry stand auf und tastete sich Schritt für Schritt zum Fenster vor, um an die Scheibe zu klopfen. »Steve?« Verflucht, was sollte dieser Stuss?
    Kurz bevor er das Fenster erreicht hatte, kehrte das Licht im Inneren der kleinen Technikerkabine zurück. Doch es war mit einem Mal eigenartig rot. Die Bude wirkte fast wie das Innere eines U-Boots bei Tauchgang.
    Erst beim zweiten Blick erkannte Barry den Grund dafür: das Blut auf der Stehlampe im hinteren Winkel des Raumes. Steves Blut.
    Keine Sekunde später klatschte der nahezu leblose Körper des Rundfunktechnikers von The Champlain Files gegen das Glas, als hätte ein Riese ihn dorthin geschleudert! Barry sah die Panik in Steves Augen, die offenen Wunden in seinem Leib, die heraushängenden Gedärme…
    Steve öffnete den Mund, schien etwas sagen zu wollen, doch dank der Schallisolierung drang kein Laut zu Barry durch. Steve wirkte wie ein Fisch im Aquarium. Ein Fisch, der jämmerlich verendete.
    Dann rutschte er die Scheibe hinab, hinterließ eine breite Spur aus Lebenssaft und zermatschten Innereien. Er war
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