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0947 - Geballte Wut

0947 - Geballte Wut

Titel: 0947 - Geballte Wut
Autoren: Simon Borner
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Polizei!«
    Mit ausgestrecktem Waffenarm eilte er auf die Täterin zu.
    Der alte Mann rührte sich kaum noch. Wimmernd kauerte er mit dem Rücken zur weiß gefliesten Stationswand da. Blut färbte sein zerknittertes Hemd dunkel und strömte ihm sturzbachgleich aus Mund und Nase. Sein Blick war leer.
    Die Frau schaute auf, als habe sie Robins Anwesenheit eben erst bemerkt. Sie grinste.
    Dann - in einer einzigen, unglaublich schnellen Bewegung - holte sie mit dem rechten Bein aus, rammte es nach vorn und trat dem Alten mit voller Wucht gegen die Schläfe. Einen entsetzlichen Atemzug lang glaubte Robin, etwas knacken zu hören.
    » Verflucht! Aufhören, hab ich gesagt!«
    Die Kleine ließ sich von ihm nichts sagen. Anstatt ihm und seiner Waffe mit Respekt zu begegnen, machte sie auf dem blutigen Absatz kehrt, sprang vom Bahnsteig aus auf die leeren Gleise und rannte los.
    »Himmel!« Pierre Robin hatte seine Dienstwaffe selten benutzt, nun aber schoss er. Zwei, drei gezielte Warnschüsse prallten vor der Flüchtenden in den Erdboden, doch die Frau verlangsamte nicht einmal ihren Schritt. Der Chefinspektor wollte ihr gerade ins Bein schießen, um sie vom Laufen abzubringen, da verschwand sie im Dunkel des U-Bahn-Tunnels.
    Und jetzt? Hinterher oder bleiben?
    Pierre sah sich um. Wo steckte nur die verfluchte Stationsaufsicht? Musste er denn alles allein machen?
    »Sind Sie in Ordnung?«, fragte er und schalt sich sofort für die dämliche Formulierung. Natürlich war der Alte nicht in Ordnung. Sein Kopf stand in einem so absurden Winkel vom Hals ab, dass das Genick nur gebrochen sein konnte .
    Dennoch schien Leben in dem Mann zu stecken. Augenlider flatterten. Der geschundene Brustkorb hob und senkte sich. Und aus den Falten des abgewetzten Trenchcoats schälte sich eine sehnige Hand, kaum mehr als Haut und Knochen. Es dauerte einen Moment, bis Robin begriff, dass der Alte ihn zu sich winkte.
    Das kann nicht sein , dachte er. Du musst tot sein. Ich… Das Knacken. Die Kopfhaltung. Du kannst nicht mehr leben!
    Schnell ging er in die Knie, beugte sich zu dem Alten hinab und tastete an dessen Hals nach einem Puls. »Ganz ruhig, okay? Ich rufe Ihnen eine Ambulanz.«
    »N… Nein.« Die Stimme des Großvaters glich dem Pfeifen eines erkaltenden Teekessels. Dies waren keine Worte mehr, nur Luft mit Lauten darin. »Du musst…«
    Die gebrechlich wirkende Hand wanderte weiter, deutete hinter sich und auf ein Musikinstrument, das wenige Schritte entfernt auf dem schmucklosen Stationsboden lag. Es handelte sich um eine Geige, und wenn Pierres Augen ihn nicht trogen, war sie in sehr gutem Zustand. Das Holz des vielleicht sechsunddreißig Zentimeter langen und nach Ahorn aussehenden Korpus war glatt lackiert und gepflegt, sodass es sich stark vom ebenhölzernen Griffbrett abhob. Die vom Steg kommenden Saiten waren straff gespannt. Alles in allem wirkte das Gerät so kostbar, als könne man mit ihm die ganz großen Konzertsäle bespielen. Ganz und gar nicht wie die Sorte, die man in den Händen eines mittellosen Straßenmusikers vermutete.
    »Gehört die Ihnen?«, fragte Pierre. »Soll ich sie Ihnen holen?«
    »N… Nein. Du sollst…« Ein Hustenanfall ließ den Alten zittern. Röchelnd wand er sich in Pierres schützenden Armen, spuckte Blut.
    Verflucht, wo blieb die Scheiß-Stationsaufsicht?
    »Du sollst… sie spielen«, keuchte der Mann, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Du musst… Sonst…«
    Pierre hob die Brauen. »Schon in Ordnung, Monsieur. Wir passen auf Ihre Geige auf, bis Sie wieder auf dem Damm sind. Aber jetzt müssen Sie sich schonen.« Er würde nie wieder auf dem Damm sein, daran bestand für den Chefinspektor kein Zweifel. Medizinisch betrachtet dürfte der Alte schon jetzt nicht mehr leben.
    Doch er tat es. »Nein… Nicht aufbewahren… Spielen! Es muss…«
    Abermals übermannte ein Hustenanfall den Sterbenden. Rotz und Blut flogen aus seinem Mund, seiner Nase. Der Blick der glasigen Augen brach. Es war vorbei.
    »Hallo? Oh, verdammt…« Pierre legte den schlaffen Körper auf dem Boden ab, tastete nach einem Puls, suchte nach Anzeichen einer Atmungstätigkeit, und fand doch nur, was zu finden er erwartete: nichts.
    Anklagend hob er den Kopf, drehte ihn nach rechts und schaute zu der kleinen, runden Überwachungskamera, die in die Decke der Station eingelassen war und der Aufsicht einen Rundumblick über den Bahnsteig ermöglichte. Ein Mann war gerade gestorben - nein, jämmerlich verendet! - und die RATP
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