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093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen
Autoren: Cedric Balmore
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mit seinen kräftigen Armen hochhob und zur Tür trug. Sie blickte nochmals zurück und hatte ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Es war schon recht merkwürdig, auf diese Weise von einer vertrauten Umgebung Abschied nehmen zu müssen.
    „Wo ist Leroy jetzt?“ fragte sie.
    „Im Brunnen.“
    Daphne schloß die Augen. Ihr war als träumte sie. Ihr fiel ein, daß sie schon einmal aus dem Bett zum Brunnen geschleppt worden war. Sie fröstelte, als sie sich an den Moder- und Verwesungsgeruch erinnerte, den der Knochenmann verbreitet hatte. Würde dieser Geruch nun Bestandteil ihres neuen Lebens sein? Daß ihr ein Leben an Leroys Seite bevorstand, hielt sie für ausgemacht. Sie fürchtete sich nicht vor dem Reich der Toten und nicht vor dem, was damit zusammenhing. Früher oder später mußte jeder diesen Weg antreten.
    Harry atmete keuchend. Daphne war nicht schwer, sie setzte ihm auch keinen Widerstand entgegen, aber gerade diese Erkenntnis hemmte und quälte ihn. Mit klarem Verstand beging er einen Mord und war drauf und dran, sich zur Bestie zu erniedrigen. Das Verbrechen, das von ihm und Daphne an Leroy Chester begangen worden war, hatte sich noch mit ihrer Liebe entschuldigen lassen, aber für das, was er jetzt tat, gab es diese Ausflüchte nicht mehr. Jetzt zeigte sich, was wirklich in ihm steckte und vielleicht immer schon in ihm gewesen war.
    Sie erreichten die dunkle, kühle Halle. Harry brauchte kein Licht anzuknipsen, er kannte hier jede Schwelle, jede Tür und jeden Mauervorsprung. Er setzte Daphne ab, um eine Pause einzulegen, hielt sein Opfer jedoch am Arm fest, um eine eventuelle Flucht unmöglich zu machen. Harrys schweres Atmen erfüllte den Raum.
    Harry fühlte sich schwach und elend. Gleichzeitig wußte er, daß es kein Zurück gab. Nicht nach dem, was er Daphne gesagt hatte. Erneut hob er sie auf seine Arme, öffnete die Tür zum Wohnzimmer und trug sie quer durch den Raum, der Terrassentür entgegen.
    O’Neill verließ auf der Gartenseite das Haus. Das Mondlicht hüllte die Umgebung des Gebäudes in feine, silbrige Schleier. Es schien, als hielte die Natur den Atem an. Nirgendwo regte sich ein Lufthauch. Es war fast warm, aber Harry fröstelte, als er durch den Garten auf den Totenbrunnen zuging. Erst jetzt fiel ihm ein, daß es an diesem Ort Schwierigkeiten und Widerstände von jenen geben mochte, die dem Brunnen zu seinem Namen verholfen hatten.
    „Ich komme, Leroy“, sagte Daphne. Sie hielt die Augen mit den dichten, langen Wimpern fest geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck milder Verzückung.
    Harry hörte Daphne sprechen. Sie schien sich mit einem unsichtbaren Partner zu unterhalten. Vielleicht war Daphnes Gemurmel auch ein Ausfluß ihrer Sinnesverwirrung.
    Oder sprach sie in diesem Augenblick tatsächlich mit Leroy? War jetzt nur noch sie in der Lage, sich mit dem Toten zu verständigen?
    Harry stapfte grimmig weiter.
    Er hatte keine Lust, sich den Kopf zu zerbrechen. Er wollte handeln, alles so rasch wie möglich hinter sich bringen. Danach wollte er Marhill Place verlassen und niemals zurückkehren. Auf diesem Ort und seinen Bewohnern lag ein Fluch, dem sich keiner entziehen konnte, der in diesen schrecklichen Bannkreis geraten war.
    O’Neill erreichte den Brunnen.
    Schwer atmend setzte er Daphne ab und bückte sich, um die Bohlen beiseite zu schieben. Ihm schwindelte, und er erwartete mit plötzlichem Erschrecken, daß Daphne versuchen würde, ihn in die Tiefe zu stoßen, aber nichts dergleichen geschah. Aus dem unergründlichen Schacht schlug ihm ein scharfer, ekelerregender Geruch entgegen. Harry richtete sich auf, er wandte sich Daphne zu. Sie blickte in den Brunnen und sah wie verzaubert aus, geradezu elfenhaft.
    Sicherlich trugen zu diesem Eindruck ihr aufgelöstes Haar, das silbrige Mondlicht und das duftige Nachthemd bei, aber Harry fand es unmöglich, sich diesem Bild ätherischer Schönheit zu entziehen.
    Er fühlte das wilde Klopfen seines Herzens. Seine Hände zitterten. Daphne erschien ihm in diesem Augenblick schöner als jemals zuvor. Der heiße Wunsch, die letzten Wochen ungeschehen zu machen, erfüllte ihn. Es fiel ihm unendlich schwer, die Tat zu begehen.
    Daphne musterte ihn prüfend, beinahe herausfordernd. Auf ihren Gesichtszügen lag noch immer der Abglanz eines merkwürdigen, wissenden Lächelns.
    „Worauf wartest du noch?“ fragte sie ihn.
    Harry bekam einen trockenen Mund. „Küß mich“, bat er. „Ein letztes Mal.“
    „Nein“,
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