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093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen
Autoren: Cedric Balmore
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Ihm war, als schwebte er in einem Traum, aber als er blinzelnd um sich blickte, erfaßten seine Augen die Umgebung mit der präzisen Detailtreue der Wirklichkeit.
    Diese Wirklichkeit hatte nur einen Fehler.
    Sie war ihm völlig fremd.
    Leroy Chester kannte weder das Bett, in dem er ruhte, noch das Zimmer, in dem es stand. Er war erschreckt und abgestoßen von der tristen Schäbigkeit des mittelgroßen Raumes, von den alten, geschmacklosen Möbeln, der verblaßten Tapete und dem kitschigen Öldruck, auf dem ein Reigen rosiger Engel über einem wogenden Ährenfeld schwebte.
    Als er sich aufsetzte, entdeckte er, daß er einen Pyjama trug, dessen knalliger roter Längsstreifen sein Geschmacksempfinden verletzte. Warum hatte er nur dieses scheußliche Ding angezogen? Leroy Chester bemühte sich, die bleierne Schwere loszuwerden, die seine Bewegungen und sein Denkvermögen lähmte, aber es ging nicht.
    Er versuchte sich zu erinnern. Wie kam er in dieses fremde, scheußliche Zimmer? Wo befand er sich?
    Der Raum hatte zwei Fenster.
    Hinter den geschlossenen Vorhängen war es hell. Das Tuckern eines Traktors wurde laut, zog vorüber, dann verebbte das Geräusch. Leroy Chester blickte automatisch auf seine Uhr, aber er bemerkte nur den weißen Hautstreifen am Gelenk, der im Laufe der Jahre entstanden war. Chester fühlte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach.
    Sein Herz klopfte rasch, sehr viel rascher, als er es von sich gewohnt war. Er warf die Bettdecke zurück, stand auf und trat vor den Spiegel, der über einem Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand hing.
    Einen Moment lang schien es ihm, als risse das Hämmern seines Herzens jäh ab, als stünde die Welt still, aber dann setzte das Jagen seines Pulses wieder ein, der Rhythmus beschleunigte sich zu einem beängstigenden Stakkato.
    Er sah sein Gesicht im Spiegel, dieses schmale, markante Oval mit den klaren, blaugrauen Augen, die hohe, etwas vorspringende Stirn und das fast weiße Haar, das einen so schroffen und für viele anziehenden Kontrast zu seiner straffen, gebräunten Gesichtshaut bildete – und das dunkle Loch in seiner Schläfe. Ein häßliches Loch von der Größe eines Pennys.
    Aus der schockierend anmutenden Öffnung zog sich, fast fingerbreit, ein verkrustetes Blutrinnsal über die Wange bis hinab zum Mundwinkel.
    Leroy Chester stützte sich mit beiden Händen schwer auf das kleine Keramikwaschbecken.
    Irgend etwas drängte ihn, einen Finger prüfend in die entsetzliche Vertiefung zu legen, aber er hatte weder die Kraft noch den Mut, diesem Drang nachzugeben. Bist du tot, fragte er sich plötzlich. Er hörte das Rattern eines schweren Lastwagens. Die Vibration des vorbeirollenden Fahrzeuges übertrug sich auf die Mauern des Hauses. Leroy Chester lächelte leer. Nein, im Jenseits gab es keine Lastwagen.
    Er zwang sich zur Ruhe, zum Nachdenken. Er war also verletzt worden, schwer verletzt sogar. Dabei war offenkundig auch sein Erinnerungsvermögen angegriffen worden. Er litt unter einem sogenannten ‚Blackout’, einer totalen Gedächtnislücke. Man hatte ihn nach dem Unfall in dieses Zimmer gebracht…
    Seine Gedanken verwirrten sich.
    Aber weshalb hatte man ihm das Blut nicht abgewaschen, warum hatte man versäumt, ihm einen Verband anzulegen? Mit einem solchen Riesenloch im Schädel gehörte er in ärztliche Pflege, in ein Krankenhaus!
    Hielt man ihn gefangen?
    Er wagte es vorerst nicht, die Fenstervorhänge zu öffnen. Er hatte einfach Angst, dabei eine ähnlich schockierende Entdeckung wie nach seinem Erwachen erleben zu müssen.
    Leroy Chester ging zur Tür, streckte wie zögernd die Hand aus und drückte die Klinke herab. Die Tür ließ sich öffnen, Chester atmete befreit auf. Er blickte in einen schmalen Korridor, von dem einige braun gebeizte Türen abzweigten. Der Flur mit seinem abgetretenen Läufer wirkte kaum vertrauenerweckender als das Zimmer, in dem er erwacht war, aber er war ein Stück greifbarer Wirklichkeit.
    Er schloß die Tür, ging zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Es tat gut, das erfrischende Naß auf der Haut zu spüren. Er wünschte das Blut abzuspülen und rieb das Wasser gründlich über und in die Haut. Aber als er sich aufrichtete und erneut in den Spiegel schaute, mußte er zu seinem Entsetzen feststellen, daß das Blut immer noch vorhanden war, fast wie eingebrannt, untrennbar mit seinem Gesicht verbunden. Er kratzte mit den Nägeln darüber hinweg, bis es schmerzte, aber das Blut blieb an seiner Haut
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