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093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen
Autoren: Cedric Balmore
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Umkreis von nahezu zwanzig Meilen, hatte aber nicht sonderlich viel zu tun und fand genügend Zeit, sich hingebungsvoll seinem großen Hobby, der Jagd, zu widmen.
    Harry verstand sich auf diesem Gebiet mit Daphne besonders gut. Ihr Vater war gleichfalls ein leidenschaftlicher Jäger gewesen, und im großen Salon von Marhill Place stand noch heute sein gut gefüllter Gewehrschrank. Chester lehnte die Jagd ab, weil er meinte, kein Recht auf das Töten fremden Lebens zu haben, aber er sah natürlich ein, daß der Mensch verpflichtet war, regulierend in den Tier- und Wildhaushalt einzugreifen.
    Der Zug wälzte sich unter den Fenstern seines Zimmers vorbei, schweigsam, bedrückend, ein langer, schwarzer Lindwurm, der Trauer und Leid signalisierte, obwohl zu erkennen war, daß die meisten Teilnehmer an der Prozession keineswegs so deprimiert waren, wie sie meinten sich geben zu müssen.
    Wer war Leroy Chester für sie denn schon gewesen?
    Der Herr von Marhill Place, ein reicher, amerikanischer Sonderling, der es sich leisten konnte, einem höchst suspekten Steckenpferd zu frönen. Er schrieb Bücher.
    Leroy trat vom Fenster zurück, durchquerte den Raum, öffnete die Tür, eilte die Treppe hinab und betrat den dämmrigen Schankraum, in dem es nach kaltem Rauch und schalem Bier roch. Um diese Stunde waren keine Gäste anwesend. Nur der Wirt, Gus Nottenham, stand an einem der Fenster und blickte dem Trauerzug hinterher.
    „Guten Morgen“, sagte Leroy Chester.
    Er holte tief Luft. Sein Puls hatte sich abermals beschleunigt. Jetzt mußte mit seinem, für Gus Nottenham sicherlich sensationellen Auftauchen, der ganze Spuk ein Ende finden…
    Der Wirt drehte sich langsam um. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit niedriger Stirn und kleinen, stechenden Augen, ein höchst unsympathischer Typ, der nur deshalb leidlich gute Geschäfte machte, weil es in Hillory Village keinen ernstzunehmenden Konkurrenten gab.
    „Morgen“, sagte Nottenham. „Frühstück, Sir?“
    Er sprach ganz normal, beinahe gleichgültig. Sah er denn nicht die Wunde, entging ihm das gräßlich aussehende Blutrinnsal?
    Gewiß, die kleinen Fenster ließen nur wenig Licht in den niedrigen Raum mit seinen schwarzen Deckenbalken, aber trotzdem war es hell genug, um jede Einzelheit wahrzunehmen.
    „Ja, bitte“, sagte Leroy Chester und machte ein paar Schritte nach vorn, auf die Fensterreihe zu, um sich besonders deutlich präsentieren zu können.
    Gus Nottenham wies mit dem Daumen über seine Schulter. „Da begraben sie einen, der sich selbst umgebracht hat“, sagte er. „Als Sie vorgestern eintrafen, dachte ich ursprünglich, Sie wollten an Chesters Begräbnis teilnehmen…“
    „Vorgestern?“ echote Leroy Chester fassungslos.
    Nottenham trat hinter den Tresen, öffnete das kleine Schiebefenster zur Küche und rief: „Einmal Frühstück für Mr. Carrington, bitte.“
    Leroy Chester setzte sich abrupt. Carrington! Er hörte den Namen zum ersten Male.
    Seltsamerweise hatte er aufgehört, sich zu wundern oder zu entsetzen. Mit seinem Leben ging etwas vor, für das es noch keine plausible Erklärung gab, aber ihm war klar, daß es keinen Sinn hatte, die Veränderung in Zweifel zu ziehen.
    Gus Nottenham kam um den Tresen herum, schlurfend und mit hängenden Schultern, als hätte er eine schlaflose Nacht hinter sich. Er ging fast wie ein Süchtiger, ein Kranker.
    „Ich muß Sie bewundern, Sir“, sagte er und setzte sich an den Nebentisch. Er konnte Leroy Chesters Gesicht jetzt voll sehen, aber nichts in seinen Augen und Reaktionen deutete an, daß er etwas Besonderes wahrnahm. „Sie kamen mit dem ausdrücklichen Wunsch, schlafen zu wollen und nicht gestört zu werden, bis Sie aufstehen. Darf ich fragen, ob Sie tatsächlich bis heute durchschlafen konnten?“
    „Ich bin noch etwas benommen“, erwiderte Leroy Chester, der sich in seine neue Rolle einzuleben versuchte und den es danach drängte, Details zu sammeln, die Licht in diese mysteriöse Affäre brachten.
    Fest stand, daß Gus Nottenham ihn nicht erkannte und für einen Mr. Carrington hielt.
    Oder war alles nur eine riesige Verschwörung, ein geheimnisvolles Komplott, das dem Ziel diente, ihn um den Verstand zu bringen?
    Nein, das war ausgeschlossen, völlig undenkbar, denn da gab es Daphne, seine trauernde Frau, die blaß und wie betäubt dem Sarg gefolgt war…
    Daphne liebte ihn.
    Und er liebte Daphne…
    Der Gedanke an seine Frau erfrischte und belebte ihn, er weckte seinen Kampfesmut,
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