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0920 - Welt der Stille

0920 - Welt der Stille

Titel: 0920 - Welt der Stille
Autoren: Simon Borner
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Glaubensbrüder und ich uns nun widmen müssen.«
    Auf ein Nicken seinerseits hin traten die anderen fünf Mönche zu ihm, und schweigend bildeten sie einen Kreis um die Pritsche, wie sie es geübt hatten. Das Licht der Fackeln an den Wänden spiegelte sich in ihren Augen, warf wandernde Schatten auf ihre Monturen und die Züge ihrer Gesichter. Martinus streckte die Arme aus, um seine Nachbarn an den Händen zu fassen, doch Bruder Clemens verweigerte ihm die Hand. »Was ist, Bruder?«, fragte Martinus besorgt.
    Der stämmige Endvierziger schnaubte. »Was ist? Das will ich Euch sagen, Martinus: Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass uns gelingt, was er erzählt hat.« Beinahe widerwillig deutete Clemens auf den liegenden Greis. »Das sind doch Märchen, Fantasiegeschichten voller Magie und Träumerei. Und wir, Männer der Kirche, folgen ihnen blindlings… Wir sollten uns schämen!«
    Ein Murren ging durch die Runde und zeigte Martinus, dass nicht alle seine Brüder die Ansicht Clemens' teilten.
    »Doch, Bruder«, sagte der Anführer sanft und ergriff die Hand des anderen Mannes. Dann ließ er seinen Blick durch die Kammer schweifen und sah jedem einzelnen Anwesenden tief in die Augen. »Das glaube ich tatsächlich. Er selbst hat es mir gesagt, und wer bin ich, ihm zu misstrauen. Überhaupt: Sind wir nicht alle des Glaubens wegen hier, in dieser Kluft und in diesem Raum?«
    Als er diesmal eine Kette aus Händen anregte, befolgten alle seinen Wunsch. Sobald der Kreis geschlossen war und nur noch die fremde Frau außerhalb stand und das Geschehen mit Augen beobachtete, aus denen die Skepsis sprach, hob Martinus an und begann zu singen, wie es ihm sein nächtlicher Besucher beigebracht hatte. Das Lied hatte keinen Text - zumindest keinen, der in einer Sprache verfasst worden war, die der Mönch als solche erkannt hätte. Aber es hatte Rhythmus, hatte Atmosphäre und einen nahezu sphärischen Klang. Die Laute hallten von den Wänden der unterirdischen Kammer wieder und hüllten die Mönche ein, wie ein dichter, wärmender und Schutz versprechender Teppich. Ein Teppich aus Tönen. In ihnen lag eine so intensive Melancholie, wie sie Martinus selbst nie hätte in Worte fassen können. Derartige Gefühle kamen direkt aus dem Herzen, nicht aus der Kehle.
    Und das Wunder geschah!
    Mit einem Mal kam Leben in das Gesicht des Alten. Vom Klang des Liedes angeregt, das zu singen er selbst Martinus aufgetragen hatte, glätteten sich seine Züge und sein Antlitz nahm einen nahezu entspannten Ausdruck an. Lippen, brüchig wie verdorrte Zweige, bewegten sich und murmelten lautlose Formulierungen, die nur der Greis selbst kannte - und es kam, wie er versprochen hatte. Martinus spürte es, roch es in der abgestandenen Luft, wie den süßlichen Duft des Weines. Energie , dachte er fasziniert und euphorisch zugleich, so riecht Energie. So riecht es, wenn Gottes Wille geschieht.
    Er war so aufgebracht, so gefangen von dem, was um ihn herum und durch seine Leistung geschah, dass er kaum bemerkte, wie Bruder Clemens die Verbindung löste und sich dem Griff seiner Hand entzog. »Lächerlicher Mumpitz«, murmelte der stämmige Mann abfällig, wandte sich um und ging auf den Ausgang zu, der nach oben in den Dom führte.
    Ungläubig starrte Martinus ihn an. Verstand Clemens denn nicht, was hier geschah? Wie konnte er sich dem entziehen, was sie zu erreichen suchten? Würde seine Weigerung, die göttliche Vorsehung zu akzeptieren, etwa zunichte machen, was gerade im Entstehen begriffen war?
    Nein. Das wird es nicht. Dafür ist es schon zu weit, sind wir schon zu weit. Ohne auch nur eine Sekunde von seinem Gesang abzulassen, wandte sich Martinus wieder dem Greis zu - und sah den Beginn des Unfassbaren.
    Ein einziges, laut gesprochenes Wort kam über die Lippen des Alten, und sofort zuckte ein gleißend heller Blitz durch den Raum. Er schwebte einen Sekundenbruchteil in der Luft, wie eine längliche und meterlange Sonne im Kleinformat. Dann explodierte sie, löste sich in einen Regen aus glitzerndem Sonnenstaub auf, der sich einer Kuppel gleich über die gesamte Kammer erstreckte. Und Martinus wusste instinktiv, dass die magische Wand errichtet war, welche ihre Arche vor den Auswirkungen dessen schützen würde, was an der Erdoberfläche gesch…
    Ein lauter Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Ruckartig drehte der Mönch sich um, blickte nach hinten und erstarrte vor Grauen ! Wenige Meter von ihm entfernt und kurz vor dem Durchgang, der nach oben
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