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0919 - Bücher des Grauens

0919 - Bücher des Grauens

Titel: 0919 - Bücher des Grauens
Autoren: Simon Borner
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wie ein Wasserfall und hielt nur inne, um abermals tiefe Schlucke aus seinem Krug zu nehmen. Er sprach davon, dass man ihn gerichtlich um seine Werkstatt gebracht habe, weil ein ehemaliger Mäzen dagegen geklagt hatte, wie der Bärtige mit dessen finanziellen Zuwendungen umgegangen war. »Achthundert Gulden«, murmelte er bitter und strich mit dem Daumen nahezu zärtlich über den Rand seines Trinkgefäßes. »Ich frage Euch: Sind achthundert Gulden genug, um den Traum eines Mannes zu beenden? Heh? Nein, nein. In Menz gibt es keine Gerechtigkeit. Nicht für unseresgleichen.«
    Diese seltsam altmodisch wirkenden Häuser. Rheinhessischer Dialekt und Gulden. Ein Ort namens Menz… Zamorras Gedanken rasten. Der Name passte nicht ganz, aber vielleicht war das ebenfalls auf die Aussprache zurückzuführen. Was hatte der Bärtige gesagt? Wenn Ihr kein Fust seid? Sollte dies etwa tatsächlich…
    »Wer seid Ihr?«, hörte Zamorra sich fragen und wusste doch schon die Antwort - so sicher, wie er sich vor ihr fürchtete. Vor dem, was - und dem Wann , das - sie implizierte.
    Der Bärtige blickte auf und schielte Zamorra aus tief liegenden, vom übermäßigen Weingenuss schwer gewordenen Augen an. »Ihr seid wirklich nicht von hier, oder?«, fragte er 1eise. »Mein Name ist Gensfleisch. Johannes Gensfleisch. Und ich stamme aus dem Haus…«
    »Ich weiß«, fiel ihm Zamorra ins Wort und setzte sich, bevor ihm die Knie ihren Dienst versagten. Das Blut rauschte in seinen Ohren, als wolle es vor der drohenden Erkenntnis fliehen. »Aus dem Hof zum Gutenberg in Mainz. Ihr seid der Erfinder des mechanischen Buchdrucks!«
    ***
    »Und als der von Johannes Fust angestrengte Prozess Gutenberg um seine Werkstatt und Arbeit gebracht hatte, musste der berühmteste Sohn dieser Stadt sein Wirken an anderem Ort ganz von vorn beginnen. Er wählte dazu…«
    Die Stimme der Referentin war so einschläfernd, wie ihr Vortrag uninteressant war, und Eusebius Struttenkötter gähnte herzhaft in Richtung des Podiums. Sollten sie doch sehen, wie wenig er auf diesen Teil der Tagung gab, den der Verband Deutscher Geologen an der Mainzer Universität abhielt. Er war hergekommen, um über den aktuellen Forschungsstand im Bereich der Erdentwicklungsgeschichte zu sprechen und sich mit Kollegen aus der ganzen Republik auszutauschen - nicht, um sich von einem zweifellos gut gemeinten, aber in seinen Augen mehr als unnötigen Rahmenprogramm über den ach so besonderen Veranstaltungsort anöden zu lassen.
    Das geschah ihm in letzter Zeit ohnehin oft genug.
    Überhaupt: Gutenberg! Eusebius konnte den Namen nicht mehr hören. Überall, wo man hier auch hinkam, begegnete man dem alten Gesellen: Cafés und Restaurants trugen seinen Namen, Statuen mit seinem historisch ohnehin nicht nachprüfbaren Konterfei zierten unzählige öffentliche Plätze. Auf den Straßen fuhren Reisebusse mit seinem Bild auf der Seite, Bäckereien hatten spezielle Gutenberg-Torten und anderes Themennaschwerk im Schaufenster stehen. Himmel, selbst die Universität machte die Heiligenverehrung mit und hatte sich gleich nach Gründung im Jahr 1949 nach dem Drucker des späten Mittelalters benannt! Ein Wunder, dass nicht auch der hiesige Fußballerstligist längst auf den Zug aufgesprungen war. Gutenberg 05…
    Struttenkötter arbeitete als Dozent in Koblenz und somit an einer Hochschule, die gut ohne etwaige Namenspatronen auskam, und je länger er in Mainz verweilte, desto seltsamer erschien ihm der »Gutenbergkult«, dem die dortige Bevölkerung zu huldigen schien. Gut, der Mann hatte eine nicht ganz unwichtige Erfindung gemacht, ohne die die Geschichte der Aufklärung deutlich anders verlaufen wäre, aber dennoch…
    »Überhaupt ist Gutenberg…«, betete die Referentin vorne auf der Bühne des als Nl ausgewiesenen Hörsaals ihren Sermon weiter herunter, und Struttenkötter konnte sich nicht verkneifen, abermals mit den Gedanken abzuschweifen.
    So unkonzentriert kannte er sich gar nicht. Was war eigentlich mit ihm los? Er war doch sonst kein Rebell gewesen, der sich über Kleinigkeiten aufregte. Noch vor wenigen Wochen hätte er eine Tagung wie diese für den Höhepunkt seines Jahres gehalten, doch nun ekelte sie ihn geradezu an. Etwas war mit ihm geschehen. Etwas, das aus dem einstigen Eigenbrötler und verschrobenen Bücherwurm, der sich nur zu gern im Labor hinter seinen Gesteinsproben und Thesenpapieren verkroch, einen anderen Menschen gemacht hatte.
    Und ich weiß auch, was , dachte er.
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