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09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)

09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)

Titel: 09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)
Autoren: George R. R. Martin
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einer Antwort herab. Sein Atem hing wie blasser Dunst in der Luft. Er spürte, wie sich in seinem Bart Eis bildete. Varamyr Sechsleib schloss die Augen.
    Er träumte einen alten Traum von einer armseligen Hütte am Meer, von drei winselnden Hunden und den Tränen einer Frau.
    Kuller. Sie hat um Kuller geweint, aber nicht um mich.
    Kugel war einen Monat vor der Zeit geboren, und er war so oft krank gewesen, dass niemand glaubte, er würde überleben. Seine Mutter wartete, bis er fast vier war, ehe sie ihm einen richtigen Namen gab, und da war es bereits zu spät. Das ganze Dorf rief ihn Kugel, mit dem Namen, den seine Schwester Meha ihm gegeben hatte, als er noch im Bauch ihrer Mutter war. Meha hatte auch Kuller seinen Namen gegeben, doch Kugels kleiner Bruder war zum rechten Zeitpunkt geboren, groß und rot und kräftig, und hatte gierig an den Brüsten der Mutter gesaugt. Sie wollte ihn nach seinem Vater nennen. Aber Kuller ist gestorben. Als er starb, war er zwei, und ich war sechs. Drei Tage vor seinem Namenstag.
    » Dein Kleiner ist jetzt bei den Göttern«, hatte die Waldhexe seiner Mutter erklärt, als sie weinte. »Er hat keine Schmerzen mehr, keinen Hunger, und er muss nicht mehr weinen. Die Götter haben ihn zu sich hinab in die Erde und in die Bäume geholt. Die Götter sind überall um uns herum, in den Felsen und Bächen, in den Vögeln und den Tieren. Dein Kuller hat sich jetzt zu ihnen gesellt. Er ist nun die Welt und alles, was in ihr ist.«
    Die Worte der alten Frau hatten Kugel durchbohrt wie ein Messer. Kuller kann sehen. Er beobachtet mich. Er weiß Bescheid. Kugel konnte sich vor ihm nicht verstecken, konnte nicht hinter die Röcke seiner Mutter schlüpfen oder mit den Hunden wegrennen, um dem Zorn seines Vaters zu entgehen. Die Hunde. Hängeschwanz, Schnüffel, Knurr. Sie waren gute Hunde. Sie waren meine Freunde.
    Als sein Vater die Hunde dabei erwischte, wie sie um Kullers Leiche herumschnüffelten, konnte er nicht wissen, welcher es getan hatte, also tötete er sie alle drei mit der Axt. Dabei zitterten seine Hände so heftig, dass er zwei Schläge brauchte, um Schnüffel zum Schweigen zu bringen und sogar vier für Knurr. Der Blutgeruch lag schwer in der Luft, und das Gejaule der sterbenden Hunde war schrecklich anzuhören, trotzdem ging Hängeschwanz sogar freiwillig zu Vater, als der ihn rief. Er war der älteste Hund, und seine Erziehung überwand die Angst. Als Kugel in seinen Leib schlüpfte, war es bereits zu spät.
    Nein, Vater, bitte nicht, versuchte er zu sagen, aber Hunde beherrschen die Sprache der Menschen nicht, und so brachte er nur ein armseliges Winseln hervor. Die Axt krachte mitten in den Schädel des alten Hundes, und in der Hütte stieß der Junge einen Schrei aus. So sind sie dahintergekommen. Zwei Tage später schleppte sein Vater ihn in den Wald. Er nahm die Axt mit, und Kugel glaubte, er würde ihm das Gleiche antun wie den Hunden. Stattdessen brachte er ihn zu Haggon.
    Mit einem Ruck erwachte Varamyr. Sein ganzer Körper zitterte heftig. »Steh auf«, schrie eine Stimme, »steh auf, wir müssen los. Es sind Hunderte von ihnen.« Der Schnee hatte ihn mit einer steifen weißen Decke überzogen. So kalt. Als er sich bewegen wollte, stellte er fest, dass seine Hand am Boden festgefroren war. Ein wenig Haut blieb hängen, als er sie losriss. »Steh auf«, kreischte sie wieder, »sie kommen .«
    Distel war zu ihm zurückgekehrt. Sie hatte ihn an den Schultern gepackt, schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht. Varamyr konnte ihren Atem riechen und dessen Wärme auf den von der Kälte tauben Wangen spüren. Jetzt, dachte er, tu es jetzt oder stirb.
    Er nahm alle Kraft zusammen, die noch in ihm steckte, sprang aus seinem Leib und drängte sich in sie hinein.
    Distel bäumte sich auf und schrie.
    Abscheulichkeit. War sie das oder er oder Haggon? Er würde es nie erfahren. Sein altes Fleisch fiel zurück in die Schneewehe, als ihre Finger losließen. Die Speerfrau zuckte wild und kreischte. Seine Schattenkatze hatte sich oft heftig gewehrt, und die Schneebärin war eine Zeit lang halb verrückt gewesen und hatte nach Bäumen und Felsen und leerer Luft geschnappt, aber das hier war schlimmer. »Raus mit dir, raus mit dir !«, hörte er ihren Mund rufen. Ihr Körper taumelte, fiel und erhob sich wieder, ihre Hände fuchtelten wild, ihre Beine zuckten in einem grotesken Tanz mal hierhin und mal dorthin, während sein Geist und ihr Geist um den Leib rangen. Sie sog eisige Luft
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