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09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)

09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)

Titel: 09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)
Autoren: George R. R. Martin
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einmal durch Bärenzähne in seiner Kehle und einmal in einem Schwall Blut, als er eine Totgeburt zur Welt gebracht hatte. Zum ersten Mal war er mit nur sechs Jahren gestorben, als die Axt seines Vaters seinen Schädel zertrümmerte. Doch selbst das war nicht so schmerzhaft gewesen wie das Feuer in den Eingeweiden, das prasselnd an seinen Flügeln entlanggekrochen war und ihn verschlungen hatte. Als er versucht hatte, vor dem Feuer davonzufliegen, hatte seine Angst die Flammen angefacht und sie noch heißer brennen lassen. Im einen Augenblick schwebte er noch über der Mauer und beobachtete mit seinen Adleraugen die Bewegungen der Männer unten. Im nächsten hatten die Flammen sein Herz in schwarze Kohle verwandelt und seinen Geist schreiend zurück in seinen eigenen Leib geschickt, und für eine kleine Weile war er dem Wahnsinn verfallen. Allein die Erinnerung daran, ließ ihn schaudern.
    Das war der Augenblick, da er bemerkte, dass sein Feuer erloschen war.
    Nur ein grauschwarzes Gewirr aus verkohltem Holz war geblieben, und in der Asche fand sich noch ein wenig Glut. Es raucht noch, es braucht nur Holz. Varamyr biss die Zähne zusammen, um sich gegen den Schmerz zu wappnen, kroch zu dem Haufen abgebrochener Äste, den Distel gesammelt hatte, ehe sie zur Jagd aufgebrochen war und warf einige Stöcke auf die Asche. »Na los«, krächzte er. » Brenne.« Er blies in die Glut und sprach ein wortloses Gebet zu den namenlosen Göttern von Wald und Berg und Feld.
    Die Götter ließen sich nicht zu einer Antwort herab. Nach einer Weile stieg auch kein Rauch mehr auf. Langsam hielt die Kälte Einzug in die kleine Hütte. Varamyr hatte weder Feuerstein noch Zunder oder trockenes Anmachholz. Er würde das Feuer nicht mehr in Gang bringen können, nicht ohne Hilfe jedenfalls. »Distel«, rief er, heiser und mit Schmerz in der Stimme. » Distel!«
    Ihr Kinn war spitz und ihre Nase flach, und sie hatte auf der Wange ein Muttermal, aus dem vier dunkle Haare sprossen. Ein hässliches Gesicht, hart dazu, und doch hätte er viel darum gegeben, es jetzt in der Tür der Hütte auftauchen zu sehen. Ich hätte sie nehmen sollen, ehe sie ging. Wie lange war sie schon fort? Zwei Tage? Drei? Varamyr war sich nicht sicher. In der Hütte war es dunkel, und er war immer wieder eingeschlafen. Dabei wusste er nie genau, ob draußen Tag war oder Nacht. »Warte«, hatte sie gesagt. »Ich komme mit Essen zurück.« Und wie ein Narr hatte er gewartet, von Haggon und Kuller geträumt und von all dem Unrecht, das er in seinem langen Leben begangen hatte, doch Tage und Nächte zogen dahin, und Distel kehrte nicht zurück. Sie kommt nicht wieder. Varamyr fragte sich, ob er sich irgendwie verraten hatte. Konnte sie seine Gedanken erraten, indem sie ihn einfach nur ansah, oder hatte er in seinen Fieberträumen gesprochen?
    Abscheulichkeit , hörte er Haggon sagen. Es war beinahe, als wäre er hier in diesem Raum. »Sie ist nur eine hässliche Speerfrau«, sagte Varamyr sich. »Ich bin ein großer Mann. Ich bin Varamyr, der Warg, der Leibwechsler; es ist nicht recht, dass sie lebt und ich sterbe.« Niemand antwortete. Es war niemand da. Distel war fort. Sie hatte ihn verlassen, so wie alle anderen auch.
    Sogar seine Mutter hatte ihn verlassen. Sie hat um Kuller geweint, aber nicht um mich. An dem Morgen, an dem sein Vater ihn aus dem Bett zerrte, um ihn Haggon zu übergeben, hatte sie ihn nicht einmal angesehen. Er hatte geschrien und um sich getreten, als man ihn in den Wald schleppte, bis sein Vater ihm eine Ohrfeige gegeben und ihm befohlen hatte, still zu sein. »Du gehörst zu deinesgleichen«, sagte er nur, als er ihn Haggon vor die Füße warf.
    Er hatte nicht Unrecht, dachte Varamyr zitternd. Haggon hat mir viel und noch viel mehr beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man jagt und fischt, wie man einen Kadaver zerlegt und einen Fisch entgrätet, wie ich mich im Wald zurechtfinde. Und er hat mich gelehrt, was es heißt, ein Warg zu sein, hat mich in die Geheimnisse der Leibwechsler eingeführt, obwohl die Gabe in mir viel stärker war als in ihm.
    Jahre später hatte er versucht, seine Eltern zu finden, um ihnen zu sagen, dass er, Kugel, ihr Sohn, der große Varamyr Sechsleib geworden war, doch beide waren tot und verbrannt. In die Bäume und in die Bäche gegangen, in die Felsen und in die Erde. Zu Staub und Asche. Das hatte die Waldhexe zu seiner Mutter gesagt, an dem Tag, als Kuller gestorben war. Kugel wollte nicht zu einem Klumpen Erde werden.
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