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09 - Denn sie betrügt man nicht

09 - Denn sie betrügt man nicht

Titel: 09 - Denn sie betrügt man nicht
Autoren: Elizabeth George
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sie strenge Anweisungen bezüglich der Pflichten einer tüchtigen Verkäuferin hinterlassen; doch seit einer halben Stunde war kein einziger Kunde mehr in den Laden gekommen, nicht einmal zum »Schauen«.
    Rachel hatte Wichtigeres zu tun, als den quälend langsamen Marsch des Sekundenzeigers rund um das Zifferblatt der Wanduhr zu verfolgen. Nachdem sie sich pflichtbewußt vergewissert hatte, daß die Vitrinen alle abgeschlossen waren, verriegelte sie die Ladentür. Sie drehte das Schild mit der Aufschrift Offen zu Geschlossen um und ging ins Lager, wo sie aus dem Versteck hinter den Mülltonnen einen liebevoll verpackten Karton holte, den sie ihre Mutter auf keinen Fall hatte sehen lassen wollen. Mit dem Päckchen unter dem Arm lief sie in die Gasse hinaus, wo ihr Fahrrad stand, und legte es behutsam in den Korb. Dann schob sie das Rad um die Ecke nach vorn und nahm sich einen Moment Zeit, um nochmals zu prüfen, ob die Tür richtig abgeschlossen war.
    Wenn herauskäme, daß sie früher gegangen war, wäre der Teufel los. Und wenn sich dann auch noch herausstellen würde, daß sie die Tür nicht richtig abgeschlossen hatte, zöge das ewige Verdammnis nach sich. Der Riegel war alt und klemmte manchmal. Da war es geraten, zur Beruhigung noch einen schnellen, erfolglosen Einbruchsversuch zu machen. Gut, dachte Rachel, als die Tür fest geschlossen blieb. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren.
    Obwohl es spät am Tag war, hatte die Hitze noch nicht nachgelassen. Der gewohnte Nordseewind - der Balford-le-Nez im tiefen Winter zu einem so unwirtlichen Ort machte - blies an diesem Nachmittag überhaupt nicht. Er hatte schon seit zwei Wochen den Betrieb eingestellt, seufzte nicht einmal genug, um die Wimpelketten, die quer über der High Street gespannt waren, zu bewegen.
    Unter den schlaff herabhängenden Fähnchen roter und blauer Fröhlichkeit vom laufenden Meter radelte Rachel zielstrebig nach Süden, dem besseren Teil des Städtchens entgegen. Sie wollte nicht nach Hause. Da hätte sie in die entgegengesetzte Richtung fahren müssen, am Meer entlang zu den drei kurzen Straßen hinter dem Gewerbegebiet, wo sie in einem der Reihenhäuser in arg strapazierter Eintracht mit ihrer Mutter zusammenlebte. Sie war vielmehr auf dem Weg zu ihrer ältesten und besten und einzig wahren Freundin, die eben von einem schweren Schicksalsschlag getroffen worden war.
    Vergiß ja nicht, teilnahmsvoll zu sein, befahl Rachel sich streng, während sie in die Pedale trat. Auf keinen Fall darf ich das von den Clifftop Snuggeries sagen, bevor ich ihr erklärt hab', wie leid es mir tut. Obwohl es mir eigentlich gar nicht besonders leid tut, wenn ich ehrlich bin. Ich hab' eher das Gefühl, daß plötzlich eine Tür aufgegangen ist, und jetzt möcht' ich da rein, so schnell ich kann.
    Rachel zog ihren Rock über ihre Knie hoch, um besser radeln zu können und zu verhindern, daß sich der dünne, zarte Stoff in der öligen Kette verfing. Sie hatte schon am Morgen beim Ankleiden gewußt, daß sie Sahlah Malik abends besuchen würde, sie hätte also leicht etwas anziehen können, was für eine längere Radfahrt besser geeignet gewesen wäre. Aber der Rock, den sie gewählt hatte, besaß genau die richtige Länge, um die Aufmerksamkeit auf einen ihrer wenigen körperlichen Vorzüge zu lenken - ihre schlanken Fesseln -, und Rachel wußte, daß sie, da Gott sie bei der Verteilung körperlicher Schönheit so stiefmütterlich behandelt hatte, das Beste aus dem wenigen machen mußte, das sie hatte. Darum trug sie stets Röcke und Schuhe, die ihren schlanken Fesseln schmeichelten, und hoffte, daß die Leute bei einem flüchtigen Blick ihr verunglücktes Gesicht nicht wahrnehmen würden.
    In den zwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie so ziemlich jedes abfällige Wort zu hören bekommen, das es gab: Reizlos, potthäßlich, schiech und grauslig waren die üblichen Adjektive; Kuh, Kröte und Gewitterziege die Substantive. Ihre ganze Schulzeit lang war sie das Ziel von Spott und gemeinen Hänseleien gewesen, und sie hatte früh gelernt, daß es für Menschen wie sie im Leben drei Möglichkeiten gab: weinen, davonlaufen oder sich wehren. Sie hatte sich für die dritte entschieden, und ihre Bereitschaft, es mit jedem aufzunehmen, der ihr krumm kam, hatte ihr Sahlah Maliks Freundschaft eingebracht.
    Meine beste Freundin, dachte Rachel. Durch dick und dünn. In guten und in schlechten Zeiten. Seit ihrem neunten Lebensjahr hatten sie nichts als gute Zeiten gehabt. Nur
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