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0816 - Der Todesbaum

0816 - Der Todesbaum

Titel: 0816 - Der Todesbaum
Autoren: Sylke Brandt
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empfing, so als wüsste der Baum, wem er das Opfer dieses Festes zu verdanken hatte, und sie jubelte in ihren Gedanken. Als sich die Zweige schließlich zurückzogen und Merille mit der Erschöpfung einer Geliebten auf den taufeuchten Boden sank, lächelte sie immer noch.
    Es war mittlerweile Tag geworden. Wie immer, wenn sie dem Baum nahe war, hatte Merille kein Zeitgefühl mehr.
    Michel, mit dem sie auch nach Paris gegangen war zum Lernen und Jagen, half ihr schließlich auf. Selbst sein immer angespanntes Gesicht wirkte weicher, obwohl er sich genauso grob verhielt wie sonst.
    »Steh auf!«, befahl er barsch. »Wir haben noch einiges zu erledigen und es ist bald Mittag.«
    Merille erhob sich gehorsam und sammelte als Erstes ihre Kräfte, um dem dichten Gestrüpp aus Kosenranken zu befehlen, den ausgesaugten Körper des Opfers freizugeben. Der verschrumpelte Leib erinnerte kaum mehr an einen Menschen, was es ihr leichter machte, ihn zu betrachten. Das war nicht mehr Jules Leroc, sondern nur noch eine leere Hülle. Andere aus dem Kreis würden sich um ihn kümmern und ihn im Wald vergraben. Selbst seine Reste konnten den Bäumen noch als Dünger dienen.
    Dann nahm sie behutsam die vertrockneten Überbleibsel des Rosenstraußes auf, den sie von Jules in Paris bekommen hatte.
    »Wir bestatten sie am Fuße des Hügels«, schlug sie vor, und Michel nickte knapp, ehe er lachte.
    »Wie passend, das mit den Rosenranken. Er mochte doch Rosen.« Wieder lachte er, und Merille verzog das Gesicht. Sie sprach nicht gern über die Opfer, wenn es vorbei war, ganz im Gegensatz zu Michel.
    »Ist, das nicht der beste Abschluss füi den vergnüglichen Abend, den du mit diesem Leroc hattest?«, fragte Michel jetzt bissig.
    »Jeder von uns hat seine eigene Methode, das Ziel zu erreichen«, antwortete Merille so leidenschaftslos wie möglich. Sie war noch benommen von der Gabe des Baums. Es war schwer, mit ihren Worten vorsichtig zu sein. »Es ist nicht nach deinem Geschmack, sich Zeit zu nehmen und ein Opfer vorsichtig einzukreisen. Und es ist nicht nach meinem, in dunklen Gassen zu lauern und mit schweren Gegenständen um mich zu schlagen, so wie du das tust.«
    Michel lachte böse. Wenn er ihre Antwort respektlos fand, so sagte er nichts. Vielleicht war er selber noch nicht ganz wieder bei sich.
    Michel war der Erste des Kreises und Merille seine neuste Schülerin. Er versprach sich viel von ihr, denn sie konnte schon jetzt starke Magie wirken, obwohl sie noch nicht lange Mitglied der Druiden war. Sicher, sie hatte sich schon immer mit der Natur beschäftigt, aber erst Michel hatte ihr Potential erkannt und sie nach Bocage-Noir und zum Baum gebracht. Seitdem kümmerte er sich in besonderer Weise um sie. Eines Tages, so wussten alle, würde er in ihr eine extrem machtvolle rechte Hand haben. Und Merille tat alles, um diesen unausgesprochenen Erwartungen gerecht zu werden.
    Eigentlich wäre es die Aufgabe von Michel gewesen, in ihrer letzten Nacht in Paris ein willkürliches Opfer in einer Straße zu überfallen und es mit nach Bocage-Noir zu bringen. Aber als Jules Leroc auftauchte, hatte Merille darum gebeten, diese ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Und sie hatte es gut gemacht, ganz gleich, wie spöttisch Michel jetzt darüber reden mochte. Sie hatte Leroc mit einem Zauber in Schlaf versetzt. Dann, als alles im Hotel still geworden war, hatten sie ihn in seinen eigenen Wagen geschleppt und waren wieder in die Bretagne gefahren. Nach Hause. Zum Hain.
    »Hede es schön, wenn du willst«, sagte Michel jetzt abfällig und riss sie aus ihren Gedanken. »Für mich ist es pervers, sich überhaupt mit jemandem wie diesem Städter einzulassen. Oder hast du dich von seinen schönen Geschenken beeindrucken lassen?« Michel zeigte auf die vertrockneten Rosen, und nun verdüsterte sich Merilles Gesicht.
    »Nein. Das war ein großer Fehler von ihm.« Sie streichelte zärtlich über die welken Blüten. »Wie auch immer, wir haben das bekommen, was wir brauchten, nicht? Der Baum hat das Opfer angenommen. Die Natur ist zufrieden nach dieser Nacht.«
    »Ja, das ist sie wohl«, erklang eine andere Stimme. Ein weiteres Mitglied des Kreises war zu ihnen getreten. Die alte Frau, die die Zeremonie eröffnet hatte, maß sowohl Merille als auch Michel für einen Moment mit strengem Blick.
    »Aber es ist trotzdem nicht die Zeit, zu lachen oder leichtsinnig zu werden«, fuhr Mutter Dahut mahnend fort. »Der Baum hat mir eine Vision geschenkt -wir müssen
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