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0816 - Der Todesbaum

0816 - Der Todesbaum

Titel: 0816 - Der Todesbaum
Autoren: Sylke Brandt
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konnte ein bitteres Auflachen nicht unterdrücken, wie er jetzt an den Baum gefesselt im Kreis der Kultisten stand, die noch immer schwiegen, während das Leuchten ihrer Hände stärker wurde. Natürlich war sie bereit gewesen, mit ihm Essen zu gehen! Er hatte gedacht, das läge an seinem Charme, seinem Witz, seinem guten Aussehen. Er war gut darin, Frauen zu betören, obwohl er langsam älter wurde. Merille Sandson sollte nur eine weitere Eroberung werden, eine neue Romanze.
    Aber all die Zeit hatte die junge Frau aus der Bretagne in ihm das Opfer gesehen, das am Baum ausbluten sollte. Er hatte ihr alles geglaubt. Dass sie zu Studienzwecken nach Paris gekommen war. Ihre schüchternen Blicke und ihre mädchenhafte Zurückhaltung. Oh, sie hatte einen Köder nach dem anderen gelegt, und Jules Leroc hatte sie alle brav geschluckt. Er war fröhlich wie ein Schaf zu seiner eigenen Schlachtbank gelaufen und hatte dabei noch gedacht, er wäre besonders clever…
    ***
    Er hatte Merille Sandson abends in ihrem kleinen Hotel abgeholt, mit dem ganzen Programm: sein bester Anzug, ein teures Aftershave, ein Strauß dunkelroter Rosen. Jules Leroc erinnerte sich, wie sie die Blumen angestarrt hatte. Nicht freudig, nein. Traurig, so als hätte er ihr einen Strauß toter kleiner Kätzchen gereicht.
    Aber sie war mit ihm losgezogen, Arm in Arm, in ihrem schlichten langen Kleid, das so fantastisch eng an ihrem schlanken Körper lag. Jules Leroc wusste noch, dass sie als einzigen Schmuck einen Halsreif aus poliertem Holz getragen hatte.
    Sie waren Essen gegangen und dann in eine Tanzbar.
    Merille war wunderbar. Sie tanzte und lachte mit einer Natürlichkeit und Wildheit, die einfach mitriss. Bald hätte Jules nicht mehr sagen können, ob er von dem Alkohol oder von dem unglaublich verführerischen Duft der Frau berauscht war. Vor allem ihr Haar verströmte einen intensiven Geruch nach Blumen mit etwas anderem darunter, einer dunklen Ahnung von Laub in einem Herbstwald, süß und schwer. Er konnte nicht genug davon bekommen. Zusammen mit dem Blick aus ihren rätselhaften grünen Augen versetzte er ihn in einen Zustand des Verlangens, der ständig stärker wurde.
    Während er Merille schließlich in seinem Wagen zum Hotel zurückbrachte, suchte er fieberhaft nach dem richtigen Ansatz, um mit zu ihr raufzugehen. Aber das war gar nicht nötig. Sie lud ihn selber ein, noch mit auf ihr Zimmer zu kommen. Und ihr Blick hatte keine Fragen offen gelassen.
    Das, so begriff Jules Leroc jetzt im Rückblick, war der Moment gewesen, in dem er das Spiel verloren hatte. Und sein Leben gleich dazu…
    ***
    Während Jules Leroc das Puzzle seiner Erinnerungen zusammensetzte, kam Bewegung in den Kreis der Kultisten.
    Eine alte Frau löste sich von den anderen und trat vor. Sie hob die Hände in Richtung des Baumes. Jules Leroc konnte sehen, dass die Alte ebenfalls sehr grüne Augen hatten, die kalt und gefühllos zu ihm herüb erstarrten.
    »Die Nacht ist richtig!«, rief sie wie ein Zeremonienmeister. »Der Himmel ist hell und mit klarem Blick. Die Erde ist hungrig, ausgelaugt von ihren Kindern.«
    Jules schloss für einen Moment die Augen, und sein Mund wurde staubtrocken. Das hatte er befürchtet. Die Erde war hungrig, und er war die Mahlzeit.
    Er starrte zu der Sprecherin hinüber und suchte nach einem Messer oder einem anderen Opfergerät, konnte aber keines entdecken. Fieberhaft verdrehte Jules seine Hände, bis er mit den Fingern die Knoten der Fesseln ertasten konnte. Die Stricke waren dick, aber das würde ihm helfen. Es war viel schwieriger, in ein dickes Seil einen guten Knoten zu machen als in eine dünne Schnur. Seine Finger waren glitschig von seinem Angstschweiß, aber er machte sich verbissen daran, an dem Strick zu zerren und ihn zu lockern.
    Wie war er denn überhaupt hierher gekommen? Eben noch war er in Merille Sandsons Hotelzimmer, einem schäbigen kleinen Raum mit billigen Möbeln, und jetzt hier auf einem Hügel im Nirgendwo? Jules Leroc fluchte und versuchte beides mit gleicher fieberhafter Eile: die Fesseln zu lockern und seine Erinnerung wieder zu finden.
    Er hatte versucht, Merille zu küssen, aber sie hatte gelacht und sich ihm in einer Wolke ihres Duftes entwunden. Dann hatte sie Jules zu ihrem Bett geführt und ihn sich hinlegen lassen. Das hatte er natürlich mehr als bereitwillig getan, der liebeskranke Narr, der er gewesen war.
    Und jetzt fiel ihm auch ein, wie die Sache zu Ende gegangen war. Er hatte sie genau vor Augen,
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