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0816 - Der Todesbaum

0816 - Der Todesbaum

Titel: 0816 - Der Todesbaum
Autoren: Sylke Brandt
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während er an seinen Fesseln zerrte.
    »Entspann dich ein bisschen«, hatte sie spöttisch gemurmelte, mit einem Blick aus den unglaublich grünen Augen und ihren langen Fingern auf seiner Stirn.
    »Wer will sich denn entspannen?«, war seine heisere Antwort gewesen. Aber seitdem er lag, hatte er tatsächlich eine gewisse Schwere gespürt. Zu viel Alkohol. Das war seine Erklärung. Merille hatte ihre kühlen Fingerspitzen wieder über seine Stirn gezogen, diesmal von oben nach unten.
    »Spürst du nicht, wie die Tiefe lockt?« Er hörte noch ihr Flüstern, ganz sanft und beruhigend und irgendwie gefährlich. Jules’ Augenlider waren schwer geworden, er hatte sie nicht offen halten können. Sein Instinkt schrie zu spät Alarm. Oh, sicher, er hatte geahnt - gewusst -, dass diese plötzliche Müdigkeit nicht normal war. Aber was hätte er an diesem Punkt noch tun können? Die Beute war im Netz. Merille Sandson hatte es nur noch zuziehen müssen.
    Magie!
    Es war einer seiner letzten bewussten Gedanken gewesen. Er, der sich seit so vielen Jahren mit Okkultismus befasste, lag da wie eine Fliege im Netz irgendeines Zaubers.
    Dann war er in Dunkelheit und Stille versunken - und hier am Baum wieder aufgewacht.
    ***
    »Die Nacht ist richtig!«, setzte nun eine männliche Stimme ein. Ein bulliger älterer Mann war vorgetreten. Mit ihm kam eine Böe, die die Zweige der Trauerweide schüttelte. »Der Wind ist wild und voller Kraft. Wir sind gekommen, den Bund zu erfüllen, den wir eingegangen sind.«
    Jules verdoppelte seine Anstrengungen und hatte das Gefühl, seine Schultern würden gleich aus dem Gelenk springen. Er hörte eine Naht reißen - fast hätte er gelacht, als er bemerkte, dass er noch immer seinen guten Anzug trug. Kein Opferkleidchen für ihn? Was waren denn das für stillose Kultisten!
    Die aufkeimende Hysterie verlieh ihm neue Kraft. Er spürte, wie der Knoten sich lockerte und langsam sein Handgelenk freigab. Keiner schien wirklich auf ihn zu achten. Was würde er machen, wenn er frei kam?
    Rennen-! Rennen wie der Teufel!
    »Die Nacht ist richtig.« Jules zuckte zusammen. Das war Merilles Stimme. Natürlich. Sie hatte ihn eingefangen, sie durfte auch bei der Opferung mitspielen. Würde sie auch diejenige sein, die ihm die Kehle durchschnitt? Aber er hatte diesmal nicht vor, sich einfach hinzulegen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Nicht, wenn er es verhindern konnte.
    »Die Bäume sind stark und voller Leben«, fuhr Merille fort. Ihre Stimme klirrte wie Eis. »Wir bringen einen, der den Weg nicht achtet, als Sühne für alle anderen.«
    Sühne! Wieder hätte er lachen können. Seine einzige Sünde war, dass er mit dieser Frau hatte die Nacht verbringen wollen. Aber nicht so…
    Der Knoten ging auf, und Jules bekam seine Hand frei. Er bemerkte, dass beide Arme mit nur einem Strick gefesselt gewesen waren, der hinter dem Stamm des Baumes herumführte. Das war es.
    Er war frei! Und jetzt nichts wie weg!
    Er kam einen Schritt weit, als jemand - ganz unzeremoniell - aufschrie.
    »Er will fliehen!«
    Kluges Köpfchen. Als Nächstes hörte er Merilles Stimme, verzerrt von Wut. »Das wird er nicht!«
    Im gleichen Moment spürte Jules, der schon fast aus dem Schatten des großen Baumes heraus war, wie etwas nach seinem Fuß griff und sich schmerzhaft durch den Stoff der Hose biss. Er schrie auf und zerrte daran, spürte es reißen, aber dann schlangen sich drei weitere Fesseln um ihn und krochen blitzschnell an ihm herauf. Jetzt konnte er sehen, was es war - wilde Rosen. Sie wuchsen aus dem Unterholz der Bäume auf ihn zu, stürzten sich wie im Zeitraffer auf ihn, wanden sich um seinen Körper und drückten zu. Ihre Dornen stachen in seine Haut, bis er blutete - und je mehr er sich gegen die Hanken wehrte, desto mehr verletzte er sich selber.
    »Merille!«, brüllte er, obwohl er nicht wusste, warum. Er sah die schöne Frau im Kreis stehen, ihre Hände bewegten sich in verschlungenen Bahnen, ihre grünen Augen glühten.
    Ihre Antwort kam sofort -- und nahm Jules jede Hoffnung.
    »Michel! Ich habe ihn! Jetzt - das Opfer!«
    Eine männliche Stimme begann, in einer seltsamen Sprache zu singen, so laut, dass es über den Wind und Jules hämmernden Herzschlag klang. Er erwartete jeden Moment, dass jemand vor ihm auftauchte, mit einem Messer in der Hand. Er war jetzt so sehr in den Rosenranken verstrickt, dass er nicht einmal mehr den Kopf drehen konnte.
    Das war es.
    Jules Leroc wusste nicht einmal, was ihn traf, und
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