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077 - Das Kollektiv

077 - Das Kollektiv

Titel: 077 - Das Kollektiv
Autoren: Stephanie Seidel
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sie flaches Gewässer erreicht haben. Yu'uri tastete nach seinen Zöpfen. Der Windkam von hintenein guter Wind, der die Heimfahrt erleichterte, doch er schlug ihm beständig die mit Lederstreifen umwickelten Flechten ins Gesicht. Ohne Eile raffte er sein Haar zusammen, schob es in den Kragen und ließ den Blick das ferne Ufer entlang wandern. Wie ein Bollwerk stand die endlose vertraute Aneinanderreihung von Bäumen, Klippen und zerklüfteten Felsformationen über dem Horizont. Yu'uri stellte einen Fuß auf den Bugrand und verlagerte sein Gewicht.
    Lautlos, unbemerkt stießen im blasendurchsetzten Kielwasser des Bootes zwei schwarze Finnen an die Oberfläche.
    Der Bug hob und senkte sich gleichmäßig mit den Wellen, und bei jeder Aufwärtsbewegung kam die Heimat in Sicht - Yebo'kraad, das wie eine Austernperle versteckt und geschützt am Scheitelpunkt von Roshni'kaaja lag - der Bucht der Flüsterfelsen . Yu'uri kreuzte zwei Arme vor der Brust und verneigte sich unwillkürlich, als er an die gewaltigen schwarzen Steilklippen dachte, die sein Dorf zum Land hin abschirmten.
    Sie erinnerten an ein knorriges Geflecht aus himmelhohen Zapfen und waren - so hatten es ihn die Alten gelehrt - ein heiliger Ort, an dem Ya'shiira, die Göttin des Windes zu ihrem Volk sprach. Immer wenn der Wind auf West drehte, war in den zahllosen Felsspalten ihr Wispern zu hören, melodiöse Folgen kleiner Laute, in denen man Worte zu erkennen glaubte und die von überall und nirgends kamen.
    Wie die Gedanken der Fischer in seinem Kopf. Yu'uri schaute über die Schulter nach den Gefährten um und musterte sie prüfend.
    Die Flossenspitzen tauchten ab. Wenige Meter vom Heck entfernt schwenkten unter den Wellen zwei gewaltige Schatten auseinander und machten sich daran, das Boot zu überholen.
    Hört ihr mich? dachte Yu'uri probeweise und seufzte, als keine Antwort kam. Ushaar hatte sich das Ruder unter die Arme geklemmt und war eingenickt, die anderen Männer tauschten gerade ihre Plätze an Riemen und Leck geschlagener Bootswand. Le'ev und Gjöör'gi saßen mit dem Rücken zum Mast auf den Planken: Das Monsterblut war endlich erstarrt und die Jungen gönnten sich eine Pause. Le'ev hielt seine tu'urma in den unteren Händen - eine gezahnte, aufklappbare Riesenmuschel; am Gürtel mitgeführt und groß genug, um eine Tagesration Essen zu fassen. Freizügig teilte er den Inhalt mit dem Freund. Yu'uri nickte ihm lobend zu und wandte sich ab, um seine Enttäuschung zu verbergen - es herrschte friedliche Eintracht im Boot, aber von gedanklichen Verbindungen war nichts mehr zu spüren. Ich werde den Dorfältesten befragen! dachte Yu'uri. Semjo'on weiß bestimmt einen Rat.
    Ihre Flossen glichen Flügeln, lautlosen schwarzen Schwingen, die das Wasser beinahe zärtlich durchpflügten und den Tod heran trugen. Zwei, drei fließende Bewegungen, dann hatten sie den Bug erreicht.
    Semjo'on weiß immer einen Rat ! verbesserte sich Yu'uri in Gedanken und lachte leise. Nur nicht, wenn es darum geht, Kaajin gefahrlos zu beichten, dass man mit ihrer Schwester geschlafen hat. Für solche Dinge ist er wohl zu alt. Wahrscheinlich hat er längst vergessen, wie…
    Der Schlag kam gänzlich unerwartet - die einzige Gnade im grausamen Spiel der fremden Macht. Ein langer, dünner Schwanz schnellte aus dem Wasser und hieb dem Fischer das stachelbewehrte Ende punktgenau in den Nacken. Yu'uri war tot, noch ehe sein fallender Körper die Wellen berührte.
    »Vater!« Gjöör'gis gellender Schrei hallte über das Boot, ließ Köpfe herum rucken und blassgesichtige Männer nach den Waffen tasten. Niemand hatte den Angriff gesehen. Nur der Junge.
    Mit ausgestreckten Händen rannte er zum verwaisten Bug, getrieben von einer widersinnigen, aus Verzweiflung geborenen Entschlossenheit, retten zu wollen, was längst verloren war. Tjomkiin fing ihn ab - Gjöör'gi war viel zu schnell unterwegs und wäre mit Sicherheit über Bord gestürzt.
    »Hiergeblieben!«, befahl er hart, barg das Gesicht des schluchzenden Jungen an seiner Brust und schaute - wie die anderen - suchend aufs Meer hinaus.
    Vor dem Bug kamen zwei perfekte Wellen aus dem Wasser, gut vier Meter breit und schwarz wie die sternlose Tiefe der Nacht: Todesrochen! Ihre wilde, animalische Schönheit, sonst der Auslöser bewundernder Blicke, wirkte auf Tjomkiin plötzlich wie ein Hohn.
    Hilflos ballte er seine Hände zur Faust, während er zusah, wie die Diener der Götter mit unvergleichlicher Eleganz abtauchten und
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