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0743 - Die Kinder des Adlers

0743 - Die Kinder des Adlers

Titel: 0743 - Die Kinder des Adlers
Autoren: Austin Osman
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sein Freund ihm die Sachen aus.
    »Du willst kneifen, was?«, sagte Leo, der bis zum Gürtel in den Farnen stand.
    »Ich hab so ein mieses Gefühl«, kam die klägliche Antwort.
    »Kannst du mir eine Gelegenheit nennen, bei der du kein mieses Gefühl hast, mal abgesehen vom Essen oder Schlafen?«, antwortete Leo ungnädig.
    Er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass diese Phase mit der üblen Unvermeidbarkeit von Schulzeugnissen kam. Und dass sie dann auch wieder ging.
    »Nun komm schon«, sagte Leo aufmunternd. »Selbst wenn sie uns erwischen, werden sie uns nicht den Kopf abreißen. Es ist doch bloß ein kleiner Setzling, und den nehmen wir nur zu wissenschaftlichen Zwecken. Heh, wir sind die kommende Forscherelite der Grande Nation, da muss man auch mal Opfer bringen und seinem Gewissen einen Tritt geben.«
    »Aber warum gerade hier?«
    »Himmel, Arsch und Zwirn«, wetterte Leo aus seinem Unterholz heraus. »Haben wir doch dreißigtausendmal besprochen, du Dummbeutel! Weil es dort hinten nicht auffällt und weil es dort eine Chance gibt, dass wir einen Ableger dieses prachtvollen Multiflores giganteum bekommen können. Also, halt die Klappe, und falls doch jemand kommt, dann kriegst du einen lauten Hustenanfall!«
    Damit drehte sich Leo um, schob sich vorsichtig zwischen den verschiedenen Farnsorten hindurch und drückte sich dann zwischen die Äste des ersten Busches.
    Jules ging einige Schritte zurück, bis zu dem Brückenbogen, der sich über den Teich wölbte. Von hier aus konnte er nach beiden Seiten Ausschau halten. Er hörte das Rascheln, mit dem sich Leo weiter bis zur nahen Rückwand des Gewächshauses vorarbeitete.
    Er beugte sich über das Geländer und schaute sein Spiegelbild in dem dunklen Wasser an. Schweißtropfen fielen von seiner Stirn, platschten leise und warfen kleine Kreise auf die glatte Oberfläche des Teiches. Dann wurde ihm die Stille bewusst, die ihn umgab. Er hob den Kopf und lauschte.
    Nichts war zu hören. Es war nicht einfach Stille - nicht die Abwesenheit von Gèräuschen. Es war so, als würde es überhaupt nie ein Geräusch geben, das in der Lage wäre, diese kompakte Stille zu durchdringen.
    Vorsichtig räusperte Jules sich.
    »Leo?« Es war nichts als ein heiseres Flüstern, als müsste er erst wieder den Gebrauch der Stimme erlernen.
    »Leo!« Dieses Mal mit aller Kraft.
    Jules zuckte beim Klang seiner eigenen Stimme zusammen und spürte, wie ihm ein weiterer Schweißstrom den Rücken hinunterrann.
    Hatte sich eigentlich schon mal einer Gedanken darüber gemacht, wie viel Mut das Leben eines Feiglings erfordert?, fragte Jules sich.
    Er räusperte sich wieder und rief noch einmal. Schon klang so etwas wie Panik in seiner Stimme. Dann lauschte er und verging fast vor Angst, weil vielleicht ein Parkwächter kommen könnte.
    Aber kein Wachpersonal ließ sich blicken. Kein Gärtner, kein Besucher.
    Und obwohl Jules schrie wie am Spieß, kam auch Leo nicht mehr zum Vorschein.
    Nicht hier, nicht jetzt und überhaupt nirgendwo mehr…
    ***
    Tenochtitlan, Spätsommer 1518
    Ein trüber, drückender Himmel lag schwer wie eine Bleiplatte über der Stadt. Der Vollmond durchdrang den Wolkenschleier nur als matter Lichtfleck. Dunst stieg vom See her auf, der die Stadt schützend umgab, und brachte den dumpfen Geruch von schalem Wasser mit, das sich in den Kanälen staute.
    Xapac bemerkte einen weiteren Geruch. Zumindest glaubte er es, als er sich jetzt in der Nacht schlaflos auf seiner Binsenmatte wälzte.
    Es war der süßliche Gestank nach Verwesung, der von der großen Pyramide herwehte. Gestern, wie auch vorgestern wie ebenso an dem Tag, der kommen würde, waren wieder die scheinbar endlosen Reihen der Gefangenen aus ihren Quartieren zum Fuß der Pyramide gezogen, hatten die steilen Stufen betreten und waren nach oben gestiegen. Dorthin, wo der Oberpriester und seine Helfer warteten, um Huitzlipochtli ein weiteres Opfer zu bringen.
    Xapac stützte sich auf die Ellenbogen. Von irgendwoher kam die scheltende, schrille Stimme einer Frau, dann schrie ein Kind auf.
    Diese Nacht war wie ein Abbild der letzten Jahre - fiebrig, unruhig, angefüllt mit der bangen Erwartung kommender Ereignisse. Xapac, der Adlerritter, tastete nach der Wasserschale neben seinem Lager, fand sie und löschte seinen Durst mit kleinen Schlucken. Es schmeckte schal und abgestanden.
    Seufzend legte sich Xapac zurück auf seine Matte. Er hätte ein weitaus weicheres Lager haben können, denn seine Position als
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