0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
mit einem Nicken und erkundigte sich dann, ob sie etwas zu trinken wünschten und wann das Frühstück gebracht werden sollte.
Sie entschieden sich für acht Uhr.
»Okay. Und Getränke?«
»Möchtest du?«
Der Junge hob die Schultern. »Limonade?«
Er zählte einiges auf.
Elohim entschied sich für eine kleine Flasche Bitter Lemon, während Dagmar einen Sekt nahm.
»Danke. Wird gleich gebracht.«
Als der Mann das Abteil verlassen hatte, schaute Elohim lange gegen die Tür.
»Ist was?« flüsterte Dagmar.
»Nein.« Es klang beruhigend. »Er ist normal.«
»Nicht alle sind wissend. Nur sehr wenige.«
Elohim schaute sie an, als wollte er ihren Worten nicht glauben. Dann drehte er den Kopf und suchte die Wände zu den beiden Nachbarabteilen ab. »Wer sie wohl sein mögen?« murmelte er.
»Normale Reisende.«
»Hoffentlich.«
Sie lachte und nahm ihn in die Arme. »Keine Sorge, wir werden es schaffen. Morgen früh, das heißt gegen Mittag, sind wir in Sicherheit. Dann sind wir unter uns.«
»Ja - vielleicht.«
»Zweifelst du daran?«
»Erst wenn ich dort bin, fühle ich mich sicherer.« Er strich sein Haar zurück. »Hier nicht. In diesem Zug bin ich in einem fahrenden Gefängnis. Da komme ich so leicht nicht weg.«
»Stimmt, wenn man die Meinung hat, die du vertrittst. Aber so ist das nicht. Du kannst die Zufälle auf dem Bahnhof nicht zusammenzählen. Er wird beim einzigen bleiben.«
Er nickte.
Dann kam der Zugbegleiter und brachte das Bestellte. Er wollte erst am nächsten Morgen zusammen mit dem Frühstück kassieren und wünschte eine gute Nacht.
»Danke, die werden wir wohl haben«, erwiderte Dagmar lächelnd, während ihr Schützling sich seiner Meinung enthielt.
Er drehte den Verschluß der Flasche ab und ließ das Prickelwasser in ein Glas laufen. Nachdenklich schaute er dabei auf die zerplatzenden Blasen an der Oberfläche. Er spürte den Strom in seinem Körper, der nicht aufhören wollte und sogar die Spitzen seiner Finger erreichte. Von Dagmars Sicherheitsdenken hatte er sich nicht anstecken lassen. Der Vorfall auf dem Bahnhof war schlimm genug gewesen.
Die Frau trank einen Schluck und stöhnte wohlig auf. »Ah, das hat wirklich gutgetan«, sagte sie, als das Glas fast leer war. »Diese Luft hier ist einfach zu trocken, findest du nicht auch?«
Er hob die Schultern.
Dagmar faßte danach. »Meine Güte, Junge, was hast du denn? Was ist mit dir los?«
»Nichts.«
»Doch!«
Er drehte den Kopf, weil draußen Lichter vorbeihuschten. Der Zug rollte bereits durch eine Stadt.
Sie würden bald in Bonn halten, einige der wenigen Stationen, wo er stoppte. »Die Dunkelheit ist voller Lichter«, flüsterte er, »sie ist geheimnisvoll, und sie schafft es, meine Feinde zu verbergen.«
»Kein Feind ist in deiner Nähe. Und wenn doch, dann bin ich auch noch da.«
In seinen Augen strahlte es. »Das weiß ich doch!« flüsterte er und umarmte die Frau. Es war eine spontane Reaktion. Elohim mußte sich auf Dagmar verlassen, ohne sie war er verloren. Sie war seine einzige Stütze, und sie hatte ihm auch geholfen, als die Frau mit dem Zweiten Gesicht erschienen war.
Er sah dabei nicht, wie Dagmar lächelte. Es war kein gutes Lächeln, sondern kalt und wissend. Und es verschwand erst von ihren Lippen, als der Zug hielt.
Der Junge blickte nach draußen. Er war ziemlich unruhig. Mit den Fingerspitzen fuhr er die Scheibe von oben nach unten und schaute auf die von ihm hinterlassenen Streifen. Manchmal bewegte er auch den Mund, ohne allerdings etwas zu sagen.
Der Bahnhof war wie tot. Kein Mensch saß auf den Bänken. Ein Bediensteter eilte an den Wagen vorbei. Er wurde von einem Fahrgast angesprochen und gab diesem Auskunft. Der Mann trug einen langen Mantel und einen dunklen Hut auf dem Kopf. Da er zusätzlich im Schatten stand, war von seinem Gesicht nichts zu erkennen. In der rechten Hand hielt er eine Zeitung, mit der linken den Griff eines Koffers umfaßte.
Elohim runzelte die Stirn. Wieder spürte er die Kälte in sich. Sein Mund war plötzlich trocken geworden. Dieser Mann wollte nur mit dem Zug fahren wie andere auch, aber Elohim sah in jedem einen Feind. Er schüttelte sich.
Dann spürte er Dagmars Hand auf seiner Schulter. »Ist was, mein Junge?«
»Nein, nein.«
»Doch, ich spüre deine Unruhe.«
Elohim seufzte und drehte sich um. Wieder überfiel ihn der Schatten der Frau. Er hatte Vertrauen zu ihr. Trotzdem flüsterte er: »Die Nacht ist noch nicht vorbei. Sie kann sehr, sehr lang
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