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0695 - Blut an bleichen Lippen

0695 - Blut an bleichen Lippen

Titel: 0695 - Blut an bleichen Lippen
Autoren: Jason Dark
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kam.
    Alles geschah in einer gespenstischen Lautlosigkeit, und abermals bekam der Küster zu spüren, daß sich hier niemand verkleidet hatte.
    Die Erscheinung war echt!
    Er schluckte, er schaute sich um, dann wieder nach vorn - und erlebte, wie Lilian Demarest auf ihn zuschwebte.
    Sie war bereits dicht vor, ihm. Etwas zischte aus ihrem Maul, als wäre ein Ventil geöffnet worden.
    Jetzt küßt sie dich! schrie es in ihm.
    Mein Gott, jetzt werden dich ihre kalten Totenlippen berühren und in die endgültige Schattenwelt hineinzerren.
    Der Küster wollte sich wehren, indem er ein Kreuzzeichen schlug, selbst das gelang ihm nicht, denn die verdammte Falle war zugeschnappt, und er hatte nicht reagiert.
    Etwas Eisiges fiel über ihm zusammen.
    Es war wie ein Tuch, das ihn umschwebte, und er glaubte, eine Stimme zu hören.
    Nicht mehr als ein böses Zischen, so verfremdet, so verdammt anders, wie er es noch nie erlebt hatte.
    Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
    Ist das der Tod?
    Es war der letzte Gedanke, der durch sein Gehirn zuckte, bevor er auf der Stelle zusammenbrach.
    Jetzt hatte der Geist freie Bahn, und sein Ziel stand längst fest. Es war der See, auf dessen Mitte das Boot dümpelte…
    ***
    Ob das Gewässer tief oder weniger tief war, konnte ich nicht feststellen, obwohl ich aus kurzer Distanz gegen die Oberfläche schaute, die eine tiefgrüne Farbe angenommen hatte und nicht einsehbar war. Möglicherweise war der See längst ›gekippt‹, hatte einer verfluchten Umwelt Tribut zollen müssen.
    Ich ruderte weiter. Und ich glitt hinein in eine Stille, die mir gefiel. Deshalb konnte ich auch gut nachvollziehen, daß es Lilian Demarest damals nicht anders ergangen war und sie diese Stunden zwischen Tag und Traum genossen hatte. Allerdings mußte man auch zu den Menschen gehören, die Stimmungen dieser Art zu schätzen wußten. Sie waren nicht jedermanns Sache. Wer um diese Zeit allein auf den See hinausruderte, für den gab es keine Zeit mehr, sie war einfach verschwunden und uninteressant geworden. Man gab sich einfach einem Stück Tagtraum hin und ließ sich davon treiben. Hinein in andere Zeiten und Welten, die den Menschen zurück in das letzte Jahrhundert versetzten, in dessen zweiter Hälfte die Romantik Triumphe gefeiert hatten und Dichter wie Matthias Claudius ebenfalls in ihren Werken Landschaften und Stimmungen beschrieben, wie ich sie hier erlebte.
    Ich fühlte mich umgarnt von der Zeitlosigkeit, ich schwebte fort, ich segelte durch andere Dimensionen, ich geriet in einen Traum hinein und hätte mich eigentlich entspannen müssen, wären da nicht diese schrecklichen Vorfälle gewesen, die meine Stimmung bereits im Ansatz zerstörten.
    Wenn mir schon der Gedanke an die Romantik kam, so war sie zumindest durchzogen vom kalten Hauch des Todes.
    Das Summen der Insekten kam mir vor wie ein Chor aus geisterhaften Stimmen, die sich aus dem Jenseits meldeten. Die Oberfläche war ein grünes Tuch, das geheimnisvoll schimmerte, denn hin und wieder huschten Reflexe über die Wellen hinweg.
    Ich zog die beiden Ruder noch zweimal durch, holte sie dann ein und ließ das Boot treiben.
    Der Bug durchschnitt das Wasser, hinterließ ein leises Plätschern, teilte das Wasser und gab den beiden Hälften einen hell schimmernden Kamm.
    Manchmal sah ich das Wasser als getöntes Glas an, das auseinanderbrach, ohne Geräusche zu hinterlassen.
    Allmählich lief der Kahn aus. Die Wellen berührten sich, ihr Plätschern war kaum mehr zu hören und verstummte wie ein Gesang, der nicht mehr vorhanden sein wollte.
    Unter mir spürte ich die Ruderbank. Im Gegensatz zum Holz des Steges war dieses noch gut erhalten.
    Nach einer Weile dümpelte das Boot nur noch. Es schwang leicht von einer Seite zur anderen, was ich wie ein leichtes Wiegen empfand, als wollte mich jemand zum Schlaf betten.
    Ich ergab mich der Stille…
    Zwei Minuten ließ ich verstreichen, verengte sogar meine Augen und verkleinerte somit mein Blickfeld, so daß ich nur einen bestimmten Ausschnitt zu sehen bekam.
    Eine Trauerweide am gegenüberliegenden Ufer, hinter der sich eine Wiese ausbreitete wie ein weites grünes Feld, über das sich allmählich die Schatten des hineinbrechenden Abends legten.
    Ende Mai wurde es nicht so schnell dunkel, es würde also noch hell bleiben, und das Licht würde sich erst in einer Stunde verändern. Bis dahin blieb es gleich.
    Ich dachte an den Geist der Lilian Demarest und konnte nur hoffen, daß ich richtig reagiert hatte.
    Bisher ging
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