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061 - Der Fuerst der Finsternis

061 - Der Fuerst der Finsternis

Titel: 061 - Der Fuerst der Finsternis
Autoren: Brian Ball
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Knie schlotterten. Der Fels wurde immer schlüpfriger. Er mußte etwas tun. Aber wie? Er konnte weder nach rechts noch nach links ausweichen. Auf keiner der beiden Seiten gab es auch nur den kleinsten Vorsprung. Ein Abstieg war ebenfalls unmöglich, weil man nicht sehen konnte, wo man hintrat oder sich festhalten sollte. Er mußte nach oben. Um aber seinen rechten Fuß auf den nächsthöheren Vorsprung setzen zu können, hätte sein linkes Bein einen halben Meter länger sein müssen. Er sah, daß sein linker Schuh bereits mit Schnee bedeckt war. Es war allerhöchste Zeit, etwas zu unternehmen. Er hätte jetzt weiß Gott was für einen großen Whisky gegeben, und er wünschte sich sehnlichst nach Sheffield zurück. Jerry blinzelte, als er nach oben sah und ihm der Schnee in die Augen fiel. Er konnte nicht den kleinsten Buckel finden, an dem er sich hätte festhalten können. Jerry drehte ein wenig den Rücken, um bessere Sicht zu bekommen. Er spürte plötzlich das Gewicht des kleinen Rucksackes an seinen Schultern, und in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er doch noch eine – wenn auch kleine – Chance hatte.
    Den steifgefrorenen Rucksack vom Rücken herunterzubekommen, war ein wahres Kunststück, die Bierdosen unter seinen linken Fuß zu stapeln ein weiteres. Er hoffte inbrünstig, der Stapel möge hoch genug werden.
    „Es reicht!“ jubelte Jerry laut in den Wind hinaus. Den Rucksack ließ er einfach fallen und blickte ihm nicht einmal nach, als er im Schneegestöber verschwand.
    „Los, Jerry“, rief er sich selbst zu und zitterte vor Angst, nun, da der große Augenblick gekommen war. Er mußte all seinen Mut zusammennehmen, um sich in Bewegung zu setzen, bevor die Nerven versagten. Einmal noch sah er hinauf in die schwarze Masse, in der sich der High Peak verbarg, und sah das Antlitz der Teufelszinne rätselhaft durch den Schneesturm lächeln.
    Dann setzte er seinen linken Fuß vorsichtig auf die Dosen, seine linke Hand klammerte sich an den Riß oberhalb, die rechte Hand faßte einen Rest des weggeschlagenen Vorsprungs, der rechte Fuß fand oberhalb der vereisten Spalte sogar einen Sims.
    Fünf Minuten später war Jerry oben auf dem Toller Edge, in fünfzehn Zentimeter Schnee, völlig erschöpft.
    „Nie wieder!“ sagte er. „Nie wieder.“
    Er blieb fast zehn Minuten lang liegen, frierend und dennoch zufrieden. Vor seinen Augen tanzten purpurne Schleier, fiebrige Hitze wurde von eisigen Schauern abgelöst. Er sah auf die Uhr. Seit seinem Aufstieg waren bereits zwei Stunden vergangen, und seit genau einer Minute hatten die Kneipen in Hagthorpe geöffnet. Der Gedanke an Whisky brachte ihn wieder auf die Beine. Er wankte den schmalen Pfad entlang, der unter der Schneedecke nur mit Mühe zu erkennen war. Es würde noch eine gute halbe Stunde dauern, bis er vom Edge herunter sein würde. Er versuchte, sich zu einem leichten Trab zu zwingen, gab aber dieses Unterfangen auf, als er zweimal auf dem abschüssigen Weg ausglitt und dabei fast die Steilwand hinuntergefallen wäre. Der Wind pfiff durch seinen Anorak. Plötzlich stolperte er über eine vom Schnee verdeckte Wurzel und verstauchte sich so sehr den Knöchel, daß sein Schmerzgebrüll fast noch das Toben des Schneesturms übertönte. Jerry fluchte laut, das half ein wenig. Er schimpfte über sein Pech, den Schnee und die Wettervorhersage. Mit seinem schmerzenden Knöchel würde er nun noch eine gute Stunde brauchen, um vorn Edge herunterzukommen. Das Schneetreiben wurde immer dichter.
    Hoffentlich verlaufe ich mich nicht, dachte Jerry, als er plötzlich bemerkte, daß er, blind vor Schmerzen, vergessen hatte, auf den Weg zu achten. Er hinkte zurück, um den Weg zu suchen, aber der Wind hatte seine Fußspuren schon wieder verweht.
    Er würde es nicht schaffen. Nur Verrückte rannten auf den Toller Edge, um sich dann dort von einem Blizzard überraschen zu lassen. Oder solche Unschuldslämmer wie die beiden Pfadfinder im Vorjahr. Oder so ein dämlicher Kerl wie der Leutnant vor zwei Jahren. Jerry versuchte, ein rascheres Tempo anzuschlagen, schrie aber vor Schmerz auf. Auch hatte er nichts Eßbares bei sich, denn Schokolade, Käse, alles lag unten am Fuß des Toller Edge. Samt dem zweiten Pullover, dem Kompaß und der Landkarte.
    Der Schnee bedeckte sein Haar, fiel ihm in den Rollkragen, in die Schuhe, wehte ihm in den Mund. Jerry humpelte durch den heulenden Sturm und dachte an die beiden Männer im Vorjahr, die ebenso schlecht ausgerüstet wie er
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