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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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ihn! Willst du?“
    „Ja. Ich trage dich hinein.“
    Ich lachte nicht über ihn. Es lag in seinem Tone, in der ganzen Situation etwas Zwingendes. Es soll vorkommen, daß Sterbende hellsehend sind. Ich trug ihn hinein. Die andern waren noch nicht wieder eingeschlafen. Rost mußte bei ihm bleiben. Winnetou und Sannel waren bereit, mich zu begleiten.
    Die Sterne leuchteten uns bei diesem Wege. Das Feuer, welches drüben stets und auch heute gebrannt hatte, war verlöscht. Wir gingen nicht am Wasser, sondern an den Felsen hin, wo wir nur schwer gesehen werden konnten, um die nördliche Seite des Sees herum. Drüben leuchtete uns eine große Schneemasse entgegen, welche mit schweren Steintrümmern von der Bergeshöhe herabgestürzt war und, wie wir nun allerdings sahen, die Hütte verschüttet hatte. In dieser Beziehung hatte Carpio richtig gesehen. Ob in Hinsicht auf den Bären auch?
    Da hörten wir ein Krachen und Prasseln, wie wenn Knochen zermalmt werden. Das mußte der Grizzly sein. Wir schlichen uns leise und äußerst vorsichtig näher. Da sahen wir seine von dem Schnee abstechende Gestalt. Er hockte am Rande der Schneelawine und fraß an etwas herum. War es ein Mensch, den er angefallen hatte? Wir richteten uns auf und gingen auf ihn zu. Er sah uns und stand im Nu auf den Hinterbeinen. Drei Schüsse krachten, einer von mir und zwei von Winnetou. Der Grizzly drehte sich zur Seite, fiel nieder, kugelte sich einmal um und blieb dann liegen.
    „Ist er tot, ist er tot?“ klang da eine vor Aufregung oder Entsetzen heisere Stimme. „Holt mich heraus, Mesch'schurs, holt mich heraus! Ich bitte euch, um Gottes willen!“
    Wir traten behutsam an den Bären heran, um zunächst ihn zu untersuchen. Er war tot. Zwei Menschen ragten, nur drei Schritte voneinander entfernt, unter den Trümmern hervor, der eine mit dem Kopfe, der andere mit der Brust, denn der Kopf fehlte ihm, den hatte der Bär zermalmt. Der noch lebende war Hiller; er war unverletzt, weil der weiche Schnee ihn beschützt hatte, doch lagen auf diesem schwere Steinbrocken, die ihn festgehalten hatten. Der von dem Bären angefressene Tote war Eggly. Wir wälzten den Stein fort und brachten Hiller auf die Füße.
    „Gott sei Dank!“ stieß er hervor. „Das – das werde ich Euch nie, nie vergessen! Ich bin kein Hasenfuß, aber in dieser halben Stunde habe ich ein ganzes Jahrhundert voll Todesangst durchlebt. Ich wachte mit Eggly vor der Hütte; da stürzte die Lawine und verschüttete uns, nicht ganz, aber wir konnten nicht heraus; die Steine waren zu schwer. Da kam der Bär. Er wählte lange, lange, eine ganze Ewigkeit, wen er fressen solle; bald beschnüffelte er ihn, bald mich; ich fühlte seinen heißen, aasigen Atem; endlich, endlich entschied er sich für ihn. Der Schädel krachte und splitterte unter dem fürchterlichen Gebiß; der Grizzly sucht ja stets erst das Gehirn! Aber ich war noch nicht gerettet; er konnte sich in jedem Augenblicke auch mir zuwenden. Es war entsetzlich; ich kann es nicht beschreiben! Da kamt Ihr, Mesch'schurs, und nun bin ich erlöst. Gott, Gott sei Dank.“
    „Wem dankt Ihr da?“ fragte ich. „Gott? Ich denke, der Glaube an Gott sei Kinderei?!“
    „Seid still, Sir! Sagt nichts davon!“
    „Pshaw! Ihr habt mir verboten, von meinem ‚sogenannten Gott‘ zu sprechen, und nun dankt Ihr ihm? Habt Ihr nicht zweimal gelästert, daß der Bär Euch das Gehirn ausfressen solle?“
    „Schweigt, schweigt! Ich bitte Euch, um des Himmels willen! In der fürchterlichen Ewigkeit, die ich jetzt zwischen Leben und Tod zubrachte, bin ich zur Erkenntnis meiner Missetat, meiner Sünde gekommen. Rettet die Verschütteten dort in der Hütte! Ich kann nicht mithelfen; ich muß mich setzen; ich zittere noch an allen Gliedern!“
    Er setzte sich nieder und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Schnee- und Steinlawine hatte, wie vorauszusehen gewesen war, die Felsenplatte getroffen, welche das Dach der Hütte bildete, und diese eingedrückt. Unter den Trümmern hörten wir dumpfe Stimmen. Wir räumten weg, was wir bewältigen konnten, um nach dem Hohlraum zu kommen, in welchem die noch Lebenden stecken mußten. Diese Arbeit war höchst anstrengend und gefährlich für uns, denn es war ja Nacht, und überall stürzten Trümmer nach. Aber gegen Morgen gelang es uns doch, Luft zu schaffen; Hiller half jetzt mit.
    Der erste, welcher herauskam, war der alte Lachner. Als er sah, wer wir waren, sagte er kein Wort; wir waren des Dankes gar nicht wert!
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