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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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es keinen Schnee, sondern einen schönen, hellen Sternenhimmel gebe. Da bat er mich, ihn hinauszutragen, er wolle so gern mit mir unter diesen Sternen sein. Ich erfüllte ihm seinen Wunsch. In Decken gewickelt saß er halb, halb lag er an meiner Brust. Seine Augen waren emporgerichtet; er sagte lange, lange nichts; dann ergriff er meine Hand und sprach:
    „Höre, mein lieber Sappho, wenn du einmal einen Sohn haben wirst, so zwinge ihn ja nicht, etwas zu werden, was er nicht werden will! Es ist so schrecklich, so schrecklich! Mir wurde dadurch meine Jugend geraubt und mein ganzes, ganzes Leben zur Hölle gemacht! Aber ich klage niemand an, denn ich bin jetzt so froh, daß es zu Ende ist, so froh, daß ich hier an diesem schönen Wasser ein warmes, ruhiges Bette finden werde!“
    „Wie kommst du dazu, vom Ende zu sprechen, lieber Carpio? Du wirst dich erholen und noch lange, lange leben!“
    „Sei still! Du weißt doch ebensogut wie ich, daß ich höchstens noch zwei oder drei Tage leben werde. Ich habe dir es schon längst angesehen; deine Augen strahlen mir jetzt in doppelter Liebe zu. Weißt du, ich habe eigentlich nur dann gelebt, wenn ich bei dir gewesen bin, und darum macht es mich so glücklich, daß ich nun auch bei dir sterben darf. Du bist zuweilen ein bißchen zerstreut, ein bißchen vergeßlich gewesen, aber doch der einzige Mensch, der mich wirklich liebgehabt hat. Das vergesse ich dir nicht, auch im Jenseits nicht; ich werde dort immer für dich beten! Nicht wahr, du weißt, daß ich sterben muß! Sage mir keine Lüge! Sei auch jetzt bei meinem Scheiden mein wahrer Freund, wie du es stets gewesen bist! Ich sterbe; nicht wahr?“
    „Ja.“
    „Ich danke dir! Weißt du, das Sterben ist gar nicht so schlimm, wie viele denken. Ich sage dir so glücklich Lebewohl und begrüße dich dann bald im Jenseits selig wieder. Höre, Sappho, weine nicht! Tu mir doch den Gefallen und weine nicht!“
    „Ich weine ja nicht, lieber Carpio!“
    „O doch! Es fiel mir eine warme Träne ins Gesicht; die ist von dir. Ich wische sie nicht weg, sondern ich nehme sie mit, um sie dem lieben Gott zu zeigen, damit er sieht, daß es auf Erden doch noch wahre Freunde und gute Menschen gibt. Aber eher als zum heiligen Christtag möchte ich doch nicht sterben! Der Baum soll dazu brennen. Wie schön wäre es, wenn mir sein Licht zum Himmel leuchtete! – – – Jener Baum, beim Franzi in Falkenau, und dein Gedicht dazu! Ich kann es noch auswendig. Ich möchte es noch einmal deklamieren, wie dort den drei armen Leuten, und auch so unter dem Weihnachtsbaum! Sappho, bete mit mir, daß unser Herrgott mich noch bis zum Christtag leben läßt!“
    Er faltete seine Hände in die meinigen, und wir beteten still, ganz still, aber um so brünstiger. Er bewegte sich nicht, auch später nicht; ich fühlte seine leisen Atemzüge; er war im Gebete eingeschlafen. Ich saß stundenlang, ohne mich zu rühren; er sollte nicht aufwachen. Die Mitternacht ging vorüber; die Sterne sagten mir, daß noch eine Stunde und noch eine verrann, da gab es plötzlich drüben, jenseits des Sees, ein fürchterliches Getöse; ein Krachen, wie von mehreren Kanonenschüssen, folgte, dann war es wieder still.
    Carpio war darüber erwacht. Winnetou, Sannel und Rost kamen heraus.
    „Es fiel wieder Schnee von der Felsenhöhe, aber sehr viel“, sagte der erstere. „Wo war es?“
    „Drüben bei der Hütte, wie es scheint“, antwortete ich.
    Wir lauschten einige Zeit. Es war kein Hilferuf zu hören. Vielleicht war es also nur in der Nähe der Hütte gewesen.
    „Sie trachten uns nach dem Leben; sie sind still“, sagte Winnetou. „Wir gehen nicht in der Nacht; wir warten, bis es Tag geworden. Ich sehe aus dem Stande der Sterne, daß mein Bruder Scharlih länger gewacht hat, als er sollte. Meine Zeit ist da; er gehe hinein!“
    „Bitte, laß mich mit Carpio hier; er wünschte es so!“ antwortete ich.
    Die drei gingen hinein, und ich war mit Carpio wieder allein. Er hatte die Augen zu und fing bald an, sehr schwer zu atmen, als ob ihm etwas Böses träume; dann schlug er sie auf, holte tief und erleichtert Luft und sagte hastig:
    „Sappho, willst du mir einen Gefallen tun?“
    „Ja.“
    „Du wirst mich auslachen, aber ich habe es jetzt bei geschlossenen Augen gesehen, ganz deutlich gesehen: Die Hütte drüben ist verschüttet; es sind mehrere Menschen tot; der Bär ist dort, und einer wagt es, aus Angst vor ihm, nicht, um Hilfe zu rufen. Gehe hinüber und rette
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