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044 - Die Millionengeschichte

044 - Die Millionengeschichte

Titel: 044 - Die Millionengeschichte
Autoren: Edgar Wallace
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gehe ich mit verschiedenen Freunden zum Marylebone-Arbeitshaus und spiele dort den armen Leuten ein wenig vor. Ich bin nämlich sehr musikalisch.«
    »Ach, spielen Sie Harfe?«
    »Nein, Saxophon. Das ist recht schwierig.«
    »Dann gehen Sie hin und spielen Sie. Tragen Sie etwas von der Festfreude auch zu diesen armen, vereinsamten Menschen.«
    Plötzlich richtete sich Ferdie auf.
    »Sagen Sie, können Sie auch das Lied spielen: ›Wo wandert mein Herzallerliebster heut nacht‹?«
    »Nein.«
    Ferdie zeigte nach der Tür.
    Stephen verneigte sich und ging hinaus.
    Morgen war Weihnachtsfeiertag. Alle Einladungen bis auf eine hatte er abgelehnt. Und diese eine... Er lachte wild auf, so laut, daß man es draußen in der Dienstbotenstube hören konnte, wo Stephen und Nobbins Zigarettenbilder austauschten.
    »Man muß an einem Weihnachtsabend vieles entschuldigen, Nobbins«, sagte Stephen, während christliche Nächstenliebe aus seinen Augen leuchtete. Sie waren beide Mitglieder einer frommen Gemeinschaft, aber Stephen war der frömmere von beiden. »Sagen Sie, kommen Sie morgen in das Arbeitshaus von St. Marylebone?«
    »Bin ich etwa auch besoffen?« fragte der Chauffeur vorwurfsvoll.
    Aber Ferdie war durchaus nicht besoffen, er war nicht einmal angeheitert. Er litt nur an gebrochenem Herzen. Es war vollständig zu Ende mit ihm. Sein Leben war zerstört, was sollte er noch damit anfangen? Ein Kind aus dem Feuer retten, wobei er sein Leben aufs Spiel setzte? Das Feuer mußte aber gerade in dem Haus ausbrechen, das Nr. 74 gegenüberlag. Rasieren brauchte er sich heute auch nicht mehr. Dann würde er einen Vollbart bekommen, zur See gehen, in weite Ferne, und später zurückkehren, schwarzbraun gebrannt von der Tropensonne. Ungewohnt des Verkehrs in der Großstadt würde er von einem Auto überfahren werden, nämlich von Lettys Zweisitzer. Und dann würden sie ihn aufheben und sterbend in das Haus Nr. 74 tragen. Wie würde Letty dann weinen! Er hörte schon ihren schrillen Aufschrei: »Ach, das ist ja Ferdie - was habe ich getan!«
    Und wenn er dann als Seemann zurückkam, würde er immer tiefer und tiefer sinken, das heißt, sein in guten Aktien angelegtes Vermögen würde immer noch zehn bis zwölf Prozent bringen, das wurde nicht weiter davon betroffen. Davon konnte er ja im Augenblick absehen. Also, er würde immer tiefer und tiefer sinken, bis er schließlich im Armenhaus landete. Aber Stephen sank dann auch immer tiefer, bis er schließlich im Armenhaus im Zimmer nebenan wohnte! Dann konnte er ihm wenigstens morgens den Tee bringen und das Rasierwasser -nein, rasieren brauchte er sich ja nicht mehr, und dann würde er tagsüber auf den Straßen umherschleichen und Schnürsenkel und Streichhölzer verkaufen. Und eines Tages würde Letty des Weges kommen, auch etwas von ihm kaufen und ihn bestürzt ansehen. Bleich würde sie werden und mit ersterbender Stimme ausrufen: »Ach, Ferdie, habe ich das getan? Oh, welches Unrecht von mir!«
    Ferdie klingelte.
    »Bringen Sie mir ein Glas Milch«, sagte er, als Stephen kam.
    »Warm oder kalt?«
    Ferdie zuckte die Schultern.
    »Das ist mir ganz gleich«, sagte er und stöhnte. Er war in einer gefährlichen Stimmung.
    Und heute war Heiliger Abend! Er erinnerte sich an eine Weihnachtsgeschichte, die er einmal gelesen hatte. Irgend jemand hatte sie geschrieben - ach, Dickens hieß er. Ferdie nickte. Er erinnerte sich genau, daß es Dickens war. Welch ein fabelhaftes Gedächtnis für Namen hatte er doch! Die Geschichte handelte von einem alten Filz, einem Menschenfeind, einem Kerl, der das Weihnachtsfest haßte, der mit Verachtung an den Schaufenstern und ganzen Reihen herrlicher Christstollen vorbeiging und nur höhnisch grinste, wenn er rotbackige Äpfel und Nüsse vor sich sah. Ein Mann, der sich nichts aus Plumpudding machte und den Tannenbaum verachtete. Ferdie gab ihm ganz recht. Was für einen Zweck hatte auch das alberne Getue? Wie hieß der Mann doch gleich? Gooch oder Groodge... Scrooge! Jetzt wußte er es wieder. Ferdie konnte das Weihnachtsfest auch nicht mehr leiden. Er haßte alles, was irgendwie fröhlich oder heiter war.
    Mühsam erhob er sich und drehte die Heizung ab, um die Temperatur im Zimmer herunterzubringen, so daß sie in Einklang mit seiner Stimmung kam. Stephen klopfte an die Tür, um sich zu verabschieden. »Frohe Weihnachten.«
    »Frohe Weihnachten«, erwiderte Ferdie ironisch durch die Nase. Das hatte er früher nie getan, aber Scrooge sprach doch auch
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