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043 - Der Teufelskreis

043 - Der Teufelskreis

Titel: 043 - Der Teufelskreis
Autoren: Paul Wolf
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in einen Sitz eingeklemmt.
    Der Vorhang hatte sich gelöst und schwebte wie eine rote Wolke über dem Zuschauerraum. Auf einmal senkte er sich auf eine Gruppe von Mißgestalteten, schloß sie ein und umwickelte sie. Die Schreie der Erstickenden gingen in dem allgemeinen Chaos unter.
    Dorian begriff überhaupt nichts mehr. Dicke Kordeln, die zur Zierde von den Wänden gehangen hatten, bewegten sich nun wie Schlangen über den Boden, schlängelten sich um die Beine, Arme und Hälse der Krüppel. Statuen, die zur Bühnendekoration gehörten, wurden auf einmal lebendig und hetzten hinter den flüchtenden Mißgestalten her. Dorian beobachtete fassungslos, wie eine dieser Gipsstatuen ein riesiges Henkersbeil auf einen Krüppel niedersausen ließ. Dann begann der Boden unter seinen Füßen zu wogen. Er konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
    Jeder Schritt bereitete Dorian unglaubliche Anstrengung. Er klebte mit den Schuhsohlen förmlich fest und sank langsam, aber sicher tiefer.
    „Wir müssen den Dämon töten, damit der Spuk aufhört!“
    Dorian stimmte dieser Ansicht zu. Wenn man den Dämon, der für diese magischen Geschehnisse verantwortlich war, vernichtete, dann würde man auch dem Zauber ein Ende setzen.
    „Da ist er!“
    „Tötet ihn!“
    Dorian erkannte, daß man immer noch ihn für alles verantwortlich machte. Er hatte geglaubt, daß den Krüppeln nun die Augen geöffnet worden wären, aber sie waren immer noch verblendet.
    Sie flüchteten nun nicht mehr, sondern kämpften sich wieder zu ihm durch und kreisten ihn ein. Er hatte keine Möglichkeit, zu fliehen. Wohin er sich auch wandte, überall waren Krüppel, die nur einen Wunsch hatten: ihn zu töten.
    Die ersten holten zum entscheidenden Todesstoß aus, da gellte ein tierischer Schrei durchs Theater. Und im selben Augenblick erstarb der Spuk. Die Sessel waren wieder nur noch Sessel ohne eigenes Leben, die Gipsstatuen erstarrten, der Bühnenvorhang fiel in sich zusammen.
    Alle Blicke wanderten zu der Loge hinauf, von wo der Schrei gekommen war. Dort sah man ein brennendes Kreuz, auf das ein Mann genagelt war. Und dieser Mann schrie, als müßte er alle Qualen der Hölle erleiden.
    Der Mann war Frank Leary. Neben ihm stand sein Henker: Timothy Morton.
    „Das ist der Dämon, den ihr sucht!“ rief Morton den Krüppeln zu. „Er hat Jimmy und Sid getötet und auch alle anderen auf dem Gewissen. Und er war es auch, der uns diese Falle gestellt hat, um sich an unseren Qualen ergötzen zu können. Jetzt kann er sich an seinem eigenen Schmerz weiden.“ Frank Leary schrie wieder auf, aber schon im nächsten Augenblick erschien ein seliger Ausdruck auf seinem Gesicht.
    Stille hatte sich über den Zuschauerraum gesenkt. Die Krüppel vergaßen ihre Umwelt und hatten nur Augen für den brennenden Dämon, der mit Silbernägeln gekreuzigt worden war. Und sie alle hörten, wie Frank Leary schrie, und es ging ihnen durch Mark und Bein. Er schrie, weil ihn das magische Feuer auffraß, und zugleich, weil er seinen eigenen Schmerz auskostete. Bisher war es ihm nur vergönnt gewesen, sich an dem Schmerz der anderen zu weiden. Jetzt erlebte er ein gänzlich neues Gefühl: das der quälenden Lust.
    Dorian wußte, daß dieser Dämon nicht an den Folgen der Kreuzigung und des magischen Feuers zugrunde gehen würde.
    Frank Leary war, um einen annähernd passenden Vergleich zu bringen, die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biß und sich selbst auffraß. Seine eigene perverse Neigung würde ihm zum Verhängnis werden. Leary litt und genoß dieses Leiden. Das empfundene Wonnegefühl aber verleitete ihn dazu, den Schmerz, den er so gierig auskostete, zu erhöhen, um in einen noch größeren Sinnesgenuß zu kommen. Es war ein Teufelskreis, dem Frank Leary nicht entrinnen konnte. Nein, Dorian mußte sich berichtigen: Es war eine Teufelsspirale, die sich immer mehr nach innen verjüngte und schließlich den Nullpunkt erreichen würde.
    Und dieser Punkt war gleichbedeutend mit Frank Learys Tod.
    Dorian setzte sich in Bewegung. Er hatte hier nichts mehr verloren. Die Krüppel wichen ihm scheu und schuldbewußt aus. Als er ins Foyer kam, stand Tim Morton bereits dort. Die beiden Männer sahen sich eine Weile schweigend an.
    Es war schließlich Morton, der das Schweigen brach. „Ihnen ist viel Unrecht geschehen, Dorian, und ich kann nur hoffen, daß das nicht unsere Beziehung beeinträchtigt. Wir haben beide das gleiche Ziel: die Dämonen auszurotten. Ich fände es schade,
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