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04 - Spuren der Vergangenheit

04 - Spuren der Vergangenheit

Titel: 04 - Spuren der Vergangenheit
Autoren: Manfred Weinland
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Ts’onot seinetwegen wirklich einen Gesandten der Götter umgebracht hatte und der Armreif die Strafe dafür war, machte ihm Angst.
    Aber würden die Götter denn wirklich jemanden schicken, der so schwach ist, dass ein Junge ihn erschlagen kann?
    Er versuchte daran zu glauben, dass dieses Wesen nicht von den Göttern kommen konnte, und doch wich das Unbehagen nicht mehr von ihm. »Versuch du es noch einmal«, forderte er Ts’onot auf, nachdem seine Bemühungen, einen Mechanismus zu finden, der den Reif wieder von seinem Handgelenk löste, ohne dass dafür die Hand abgeschnitten werden musste, nicht gefruchtet hatten.
    Ts’onot erhob sich. Im Näherkommen wankte er leicht, benommen von den Dämpfen, die seinen Geist für Wahrnehmungen weiteten, die ihm sonst verschlossen blieben. Vor Oxlaj ging er in die Hocke. Der Priester spürte die Scheu, die der Sohn des Kaziken überwinden musste, um die Hände nach dem Fundstück auszustrecken, das weiterhin von unsichtbarer Hand bewegt wurde.
    Obwohl Ts’onot den Anschein erweckte, sich intensiv mit seiner Aufgabe zu beschäftigen, stellte er seine Bemühungen nach einer Weile erfolglos ein. »Es geht nicht.«
    »Und wenn du deine Gabe einsetzt?«
    »Ich kann sie nicht nach Belieben erwecken, das weißt du. Noch nicht jedenfalls.«
    Oxlaj nickte. Deshalb hatte Ah Ahaual den Jüngling in die Obhut des Priesters gegeben. Niemand verstand sich besser auf die natürlichen Mittel, die eine seherische Veranlagung steigern konnten.
    »Ich werde mit meinem Vater sprechen, dass er dir den Reif als Geschenk überlassen soll«, sagte Ts’onot. Er erbat sich die Erlaubnis, das Haus zu verlassen, was Oxlaj ihm gewährte.
    »Ich wollte ohnehin hinauf zum Tempel«, sagte er. »Dort werde ich auch zu finden sein, falls du mich nach deiner Rückkehr suchst.«
    Mit diesen Worten trennten sie sich. Der Weg, den Oxlaj wenig später beschritt, führte ihn an den Käfigen vorbei, in denen die Gefangenen ihrem Schicksal entgegen dämmerten. Die Sonne stand hoch am Himmel und dörrte die Kehlen der heimtückischen Tutul Xiu aus. Die meisten von ihnen waren bereits zu entkräftet, um Oxlajs Vorbeimarsch mit Beschimpfungen und Flüchen zu kommentieren. Einer aber streifte seine Lethargie ab und tobte hinter den Stäben. Bereitstehende Aufseher brachten ihn mit langen Knüppeln zur Räson. Bevor sie ihn jedoch totprügeln konnten, schritt Oxlaj ein.
    »Lasst ihn. Er soll leben. Sein Herz ist voller Mut und Kraft – genau das, was die Götter gnädig stimmt.«
    Wenig später erreichte Oxlaj die Stufen, die zu der gewaltigen Tempelanlage hinaufführten. Sie überragte sämtliche Bauten Ah Kin Pechs, selbst den Herrscherpalast.
    Erstaunlicherweise bewegte sich der Armreif auf dem Weg nach oben kaum noch. Häufiger als zuvor fanden die Kerben zu einem Dreieck zusammen.
    Oxlaj versuchte dem so wenig Beachtung wie möglich zu schenken. Das bevorstehende Opferritual folgte einem immer gleichen Schema. Dennoch war es nötig, sich geistig darauf einzustimmen, in stumme Zwiesprache mit den Göttern zu treten.
    Niemand folgte ihm die Stufen hinauf und niemand hielt sich um diese Zeit dort oben auf. Die Priester, die ihm während der Zeremonie zur Hand gehen würden, bereiteten sich in geschlossenen Räumen auf ihre Aufgaben vor. Oxlaj würde erst kurz vor der Opferung mit ihnen zusammentreffen.
    Oben angelangt, genoss er zunächst den Blick über Ah Kin Pech, die eindrucksvolle Stadt, deren Straßen so sauber wie die Brunnen darin waren und deren Bewohner schon begonnen hatten, sich für den feierlichen Akt zu kleiden und zu bemalen.
    Während er sich von dem Ausblick ab- und dem großen Opferstein zuwandte, der die Spitze der Pyramide dominierte, zog der Reif abermals seine Aufmerksamkeit auf sich.
    Wieder ergänzten sich die Kerben links und rechts des mittleren Rings zu einem geschlossenen Dreieck, und als Oxlaj den Arm wie unter einem inneren Zwang anhob und auf den Opferstein deutete, durchlief ihn eine schnelle Abfolge von Muskelzuckungen. Oxlaj blickte wie erstarrt in die Richtung, die ihm die Speerspitze wies.
    Dann setzte er sich zum Opferstein in Bewegung.
    Und erlebte ein Wunder.
    ***
    Die Welt um Oxlaj herum brach auf wie die Schale einer Frucht! Der massive Stein verschwamm vor seinen Augen, als würde er auf eine bewegte Wasseroberfläche blicken.
    Der Priester riss erschreckt die Augen auf und taumelte vor der Erscheinung zurück – und sie verschwand.
    Oxlaj blieb stehen, kämpfte um sein
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