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04 - Mein ist die Rache

04 - Mein ist die Rache

Titel: 04 - Mein ist die Rache
Autoren: Elizabeth George
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Wiedersehen gedauert. Dann war nicht Deborah heraufgekommen, um ihn zu begrüßen, sondern Cotter, um ihm betreten mitzuteilen, daß Deborah noch einmal mit Lord Asherton weggefahren sei. Mit Thomas Lynley, St. James' ältestem Freund.
    Cotters Verlegenheit über Deborahs Verhalten drohte die ohnehin peinliche Situation nur noch zu verschlimmern.
    »Sie sagte, sie wäre gleich wieder da«, hatte Cotter gestammelt. »Sie sagte -«
    St. James wollte ihn zum Schweigen bringen, aber er wusste nicht wie. Schließlich bereitete er der Sache ein Ende, indem er auf die Zeit verwies und erklärte, er wolle zu Bett gehen. Cotter ließ ihn in Frieden.
    Da er wußte, daß er bestimmt nicht schlafen könnte, blieb er jedoch im Arbeitszimmer und versuchte sich mit der Lektüre einer Fachzeitschrift abzulenken, während die Stunden vergingen und er auf ihre Rückkehr wartete. Seine Vernunft sagte ihm, daß ein Zusammentreffen jetzt sinnlos sei. Der Narr in ihm - in einem Aufruhr von Gefühlen - sehnte sich danach.
    Wie kann man nur so albern sein, dachte er auf dem Weg nach oben. Aber als wollte sein Körper dem widersprechen, was der Intellekt ihm riet, ging er nicht zu seinem eigenen Zimmer, sondern zu dem Deborahs ganz oben im Haus. Die Tür stand offen.
    Es war ein kleiner Raum, kunterbunt eingerichtet. Ein alter Eichenschrank, liebevoll restauriert, lehnte auf schiefen Beinen an der Wand. Auf dem Toilettentisch stand einsam eine rosarot geränderte Belleek-Vase. Ein früher farbenprächtiger Teppich, den Deborahs Mutter wenige Monate vor ihrem Tod selbst geknüpft hatte, bildete ein helles Oval auf dem Fußboden. Das schmale Messingbett, in dem Deborah seit ihrer Kindheit geschlafen hatte, stand unter dem Fenster.
    In den drei Jahren ihrer Abwesenheit hatte St. James das Zimmer nicht ein Mal betreten. Aber jetzt trat er widerstrebend ein und ging zum offenen Fenster. Ein sanfter Wind raschelte in den weißen Vorhängen. Selbst hier oben konnte er den zarten Duft der Blumen im Garten riechen.
    Während er hinuntersah, bog ein großer silberner Wagen aus der Cheyne Row kommend um die Ecke und hielt vor der alten Gartenpforte. St. James erkannte den Bentley und seinen Fahrer, der sich der jungen Frau an seiner Seite zuwandte und sie in die Arme nahm.
    Das Mondlicht schien ins Wageninnere, und unfähig, sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn er gewollt hätte - was nicht der Fall war -, beobachtete St. James, wie Lynley den Kopf zu Deborah hinunterneigte. Sie hob den Arm und zog ihn an sich, an ihren Hals, an ihre Brust.
    St. James zwang sich, den Blick vom Wagen zum Garten zu wenden. Seine Augen brannten. Seine Haut selbst schien zu schmerzen.
    Er kannte Deborah seit ihrer Geburt. In seinem Haus in Chelsea war sie aufgewachsen, das Kind eines Marines, der für St. James Pfleger, Bediensteter und Freund zugleich war. In der finstersten Zeit seines Lebens war sie ihm ständige Gefährtin gewesen und hatte ihn aus den dunkelsten Tiefen der Verzweiflung gerettet. Doch jetzt ...
    Sie hat gewählt, dachte er und versuchte sich angesichts dieser Erkenntnis einzureden, daß er nichts fühlte, daß er es hinnehmen konnte, daß er Verlierer sein und weitermachen konnte.
    Er überquerte den Flur und ging in sein Labor, wo er eine starke Lampe einschaltete, deren gebündeltes Licht auf einen Untersuchungsbericht fiel. Er mühte sich, das Papier zu lesen - ein erbärmlicher Versuch, sein Haus in Ordnung zu bringen. Dann hörte er den Wagen anspringen und wenig später Deborahs Schritte im unteren Flur.
    Er machte noch ein Licht an und ging zur Tür, von einer plötzlichen Angst überkommen, von der Furcht, nichts sagen zu können, keine Ausrede dafür zu finden, warum er morgens um drei Uhr noch auf war. Aber ihm blieb gar keine Zeit zu überlegen. Deborah kam beinahe so rasch die Treppe heraufgeflogen wie am Nachmittag Sidney.
    Sie nahm die letzte Stufe und fuhr zusammen, als sie ihn sah. »Simon!«
    Zum Teufel mit seiner Rolle, alles schweigend hinzunehmen. Er hob eine Hand, und sie kam in seine Arme. Es war wie selbstverständlich. Sie gehörte an diesen Platz. Sie wußten es beide. Ohne weitere Überlegung senkte St. James den Kopf, um ihren Mund zu suchen, und fand statt dessen ihr Haar. Das unverwechselbare Aroma von Lynleys Zigaretten hing darin, bittere Erinnerung daran, wer sie gewesen und wer sie geworden war.
    Der Geruch brachte ihn zur Besinnung, und er ließ sie los. Er sah, daß Zeit und räumliche Entfernung ihn verleitet
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