Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
04 - Mein ist die Rache

04 - Mein ist die Rache

Titel: 04 - Mein ist die Rache
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
Sidney gestikulierte mit beiden Händen, um ihrem Bericht dramatischen Effekt zu geben. »Peter Lynley und eine Schöne der Nacht - ganz in Schwarz, mit wallender schwarzer Mähne wie eine Abgesandte aus Transsylvanien - in einer finsteren Hintergasse in Soho. Wir haben ihn in flagranti ertappt.«
    »Tommys Bruder Peter?« fragte Helen, die Sidneys Neigung kannte, wesentliche Details zu übersehen. »Das kann nicht sein. Er ist doch in Oxford.«
    »Offensichtlich gibt es Dinge, die ihn weit mehr interessierten als sein Studium. Zum Teufel mit Geschichte und Literatur.«
    »Was redest du da, Sidney?« St. James ließ sich von seinem Hocker herunter und begann, im Labor hin und her zu gehen.
    Sidney schaltete Helens Mikroskop ein und riskierte einen Blick durch das Objektiv. »Puh! Was ist denn das?«
    »Blut«, antwortete Helen. »Also, wie war das nun mit Peter Lynley?«
    Sidney stellte die Schärfe ein. »Das war - warte mal. Freitagabend. Ja, stimmt. Ich mußte Freitagabend zu so einer piekfeinen kleinen Cocktailparty im West End, und an dem Abend hab' ich Peter gesehen. Im Nahkampf mit einer Nutte. Sie wälzten sich beide auf der Erde. Wenn das Tommy gesehen hätte!«
    »Tommy ist schon das ganze Jahr nicht sehr glücklich über Peter«, sagte Helen.
    »Als wüßte Peter das nicht!« Sidney warf ihrem Bruder einen flehenden Blick zu. »Was ist denn nun mit dem Tee? Darf man noch hoffen?«
    »Immer. Erzähl weiter.«
    Sidney schnitt ein Gesicht. »Viel mehr gibt's nicht zu erzählen. Justin und ich sahen plötzlich Peter, der sich im Dunkeln mit dieser Frau prügelte. Sogar ins Gesicht hat er sie geschlagen. Justin zog ihn weg, und die Frau fing plötzlich an, wie eine Irre zu lachen. Ganz merkwürdig, sag' ich euch. Wahrscheinlich war sie hysterisch. Aber ehe wir uns um sie kümmern konnten, rannte sie weg. Wir haben Peter dann heimgefahren. Er hat eine miese kleine Bude in Whitechapel, Simon, und vor der Tür wartete ein Mädchen mit gelben Augen und dreckigen Jeans auf ihn.« Sidney schüttelte sich.
    »Wie dem auch sei, mit mir hat Peter kein Wort über Tommy oder Oxford oder sonst was gesprochen. Wahrscheinlich war ihm das alles ziemlich peinlich. Er hat bestimmt nicht damit gerechnet, daß ausgerechnet Freunde ihn erwischen würden.«
    »Und was hattest du dort zu suchen?« fragte St. James.
    »Oder war Soho Justins Idee? Was ist mit Brooke, Sid?«
    Sidney richtete eine wortlose Entschuldigung an Helen, ehe sie ihrem Bruder trotzig in die Augen sah. Die Ähnlichkeit der beiden war auffallend - dasselbe lockige schwarze Haar, dieselben schmalen, scharfen Gesichtszüge, dieselben blauen Augen. Sie wirkten wie die beiden Seiten ein und derselben Medaille: Sprühende Lebhaftigkeit auf der einen, resignierte Ruhe auf der anderen Seite.
    Sidney jedoch schien davon nichts wissen zu wollen. »Hör auf, mich zu bevormunden, Simon«, sagte sie.

    Das Schlagen einer Uhr riß St. James aus dem Schlaf. Es war drei Uhr morgens. Einen Moment lang - zwischen Schlaf und Wachen gefangen - wußte er nicht, wo er war, bis der Schmerz eines verspannten Muskels, der sich in seinem Nacken zusammenkrampfte, ihn vollends wach machte. Er richtete sich in seinem Sessel auf und erhob sich, langsam und mühevoll in seinen Bewegungen. Vorsichtig streckte er sich und ging zum Fenster, das zur Cheyne Road hinuntersah.
    Das Mondlicht lag silbern auf den Blättern der Bäume, fiel auf die renovierten Häuser gegenüber, auf das Carlyle-Museum, die Kirche an der Ecke. In den letzten Jahren war neues Leben in dieses Viertel am Fluß eingezogen und hatte es aus seiner Bohème-Vergangenheit erweckt. St. James liebte es.
    Er kehrte zu seinem Sessel zurück. Auf dem Tisch neben ihm stand sein Glas, in dem noch ein Rest Brandy war. Er trank ihn aus, schaltete die Lampe aus und ging aus dem Arbeitszimmer durch den schmalen Flur zur Treppe.
    Langsam stieg er sie hinauf. Bei jeder Stufe das kranke Bein nachziehend, die Hand fest am Geländer, um sich zu stützen, belächelte er müde das einsame, unrealistische Aufheben, das er um Deborahs Rückkehr gemacht hatte.
    Cotter war seit Stunden vom Flughafen zurückgewesen, aber seine Tochter hatte nur ein kurzes Gastspiel gegeben und sich die ganze Zeit in der Küche aufgehalten. In seinem Arbeitszimmer konnte St. James Deborahs Lachen hören, die Stimme ihres Vaters, das Kläffen des Hundes. Er konnte sich vorstellen, wie die Katze vom Fensterbrett sprang, um sie zu begrüßen. Eine halbe Stunde hatte das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher