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02 Winter am Ende der Welt

02 Winter am Ende der Welt

Titel: 02 Winter am Ende der Welt
Autoren: Annegret Heinold
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anzeigt. Hier bin ich damals mit Clara und Peppermint spazierengegangen und habe Carl kennengelernt, am Peppermint-weg-Tag. Noch ein Stückchen weiter und da ist auch schon die Abzweigung zu Johns Farm. Wo ja Carl jetzt wohnt.
    Ich fahre so langsam, dass das Auto stehenbleibt.
    Jetzt muss ich mich entscheiden.
    Geradeaus vor mir liegt The Road, hier geht es in die Welt, nach Gold River und nach Campbell River, in den Strathcona Park und nach Vancouver. Nach Port Hardy und nach Port McNeill, nach – ja, sogar nach Lissabon, wenn man so will, man muss nur die richtige Richtung einschlagen, die richtigen Abbiegungen nehmen und beharrlich seinen Weg weiter verfolgen und die Richtung beibehalten.
    Wenn ich nach rechts abbiege, komme ich zu Carl. Zu einem tollen Mann, der wunderbar kochen kann, und der mir einen Job angeboten hat. Wenn ich rechts abbiege, werde ich mein Leben, oder doch zumindest die nächsten Jahre in Kanada verbringen, auf Vancouver Island. Ich werde Jasmin Monteiro, die Frau von der historischen Farm mit Museums-Café, sein.
    Ich stelle den Motor ab (weil ich ja schon Umweltbewusstsein habe, nicht wahr, und meine carbon footprints nicht unnötig erhöhen will) und bleibe einfach in der Dämmerung sitzen.
    Es gibt übrigens noch einen dritten Weg.
    Ich kann umdrehen. Ich kann zurück ins Dorf fahren, denn dort im blauen Flusshaus ist mein Mann. Ich könnte ihn fragen, ob er nicht zu mir zurückkommt. Ob ich zu ihm zurückkommen kann. Ob wir gegenseitig zurückkommen wollen, also wieder zusammen sein. Es noch mal miteinander versuchen.
    Da ist so viel schöne gemeinsame Vergangenheit.
    Wenn ich mit Carl zusammen wäre, wenn ich hier leben würde, wenn ich Frau Monteiro vom Museum wäre, dann wäre meine ganze Vergangenheit, die Uni in Hamburg, das Leben in Lissabon, die Kinder als Babys, nur noch Erinnerung. Wenn ich aber mit Jorge zusammen wäre, und wenn wir weiter zusammen leben und lieben und streiten würden – dann wäre es mehr als Erinnerung, dann hätten wir die gemeinsame Vergangenheit, die dadurch, dass der andere es ja auch erlebt hat, viel mehr ist als eine Erinnerung.
    Lichter kommen mir entgegen. Dann hält ein Auto an, jemand steigt aus und klopft an meine Scheibe. Ich öffne, es ist ein Mann:
    „Alles in Ordnung?“, fragt er.
    „Alles in Ordnung“, sage ich.
    Keine weitere Erklärung. Das ist ja nicht zu erklären, nicht in ein paar Worten und es geht ihn ja auch nichts an. Bei einer Reifenpanne kann man den Reifen wechseln, bei einem Motorschaden kann man einen Mechaniker holen. Bei Benzin alle kann man einen Kanister mit Benzin heranschaffen. Aber das hier muss ich selber regeln.
    „Ganz sicher?“, fragt der Mann. „Ganz sicher“, sage ich und lasse den Motor an. Ich fahre los und biege in den Weg zu Johns Farm ein, ich muss Carl ja schon noch sagen, was los ist. Carl wartet auf mich, ich will ihn nicht hängen lassen. Und ich hoffe, er kann mich verstehen.
     
    Carl versteht mich.
    Er bedauert meine Entscheidung. Es hätte ja auch ein schönes Leben werden können, wir wären bestimmt ein gutes Team gewesen. Und wenn es ein Parallel-Universum gäbe, dann wäre hier mein Platz. An Carls Seite. Aber da wir ja mal gerade nur das Leben in einem Universum schaffen, und auch das nur so la-la, jetzt mal ganz ehrlich, werde ich in meine alte Welt zurückkehren.
    Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich verstehen, warum Jorge mich so oft betrogen hat. Oder anders: warum er mir untreu war. Oder sagen wir: warum er mit anderen Frauen geschlafen hat. Warum er für einen Moment die Welt mit anderen Frauen getestet hat, in ein anderes Leben geschlüpft ist, ein paralleles Leben gelebt hat.
    Ich kann jetzt verstehen, wieso so ein Parallel-Universum so eine Versuchung sein kann. Ich kann jetzt verstehen, dass es schön wäre, wenn da ganz andere Dinge möglich wären. Ich sehe, dass die Welt voller Möglichkeiten ist. Und wie schwierig es ist, sich zu entscheiden, weil ja jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas anderes ist. (Das sind so Sachen, die jeder eigentlich sowieso weiß, aber die man nur in manchen Momenten so richtig begreift.)
    Mein Winter am Ende der Welt ist vorbei. Meine Seele ist geheilt. Der Rest wird sich finden.
     
    Als ich nach Hause komme, ist es schon sehr spät. Das ist Carls Schuld, er hat mich überredet, doch noch zum Essen zu bleiben (schade um das ganze schöne Essen, mit dem er sich so viel Mühe gegeben hat, und außerdem bin ich ihm einen
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